Fußball-WM: Querschnittsgelähmter Mensch soll ersten Ball spielen
Das Walk-Again-Projekt ist eine internationale Zusammenarbeit von mehr als hundert Wissenschaftlern um Prof. Miguel Nicolelis von der Duke University in den USA und dem Internationalen Institut für Neurowissenschaften von Natal in Brasilien. Prof. Gordon Cheng, der Leiter des Instituts für Kognitive Systeme an der Technischen Universität München (TUM), ist einer der führenden Köpfe.
Acht brasilianische Männer und Frauen im Alter von 20 bis 40 Jahren, die von der Hüfte abwärts gelähmt sind, trainieren seit Monaten den Umgang mit dem Exoskelett. Das System zeichnet die elektrische Hirnaktivität des Patienten auf und erkennt dessen Absicht – einen Schritt zu machen oder einen Ball zu kicken – und übersetzt sie in Aktion. Außerdem gibt es dem Patienten taktile Rückmeldung mittels einer sensitiven, künstlichen Haut, die in Chengs Institut entwickelt wurde.
Das Gefühl, den Boden zu berühren
Die Inspiration für diese sogenannte CellulARSkin Technologie, wie für das Walk-Again-Projekt an sich, stammt von einer Zusammenarbeit aus dem Jahr 2008, einem komplexen und vielbeachteten Experiment, das Cheng so zusammenfasst: „Miguel ließ in North Carolina einen Affen auf einem Laufband gehen, und mit Hilfe von dessen Hirnsignalen brachte ich meinen humanoiden Roboter in Kyoto zum Laufen.“ Von dort war es für die Forscher nicht mehr weit zu der Vision, dass gelähmte Menschen dank eines durch ihre eigenen Hirnsignale gesteuerten Exoskeletts wieder gehen lernen könnten.
„Unser Gehirn ist sehr anpassungsfähig, wenn es darum geht, körperliche Fähigkeiten durch die Verwendung von Werkzeugen zu erweitern“, sagt Cheng, „wie zum Beispiel beim Autofahren oder beim Essen mit Stäbchen. Nach dem Kyoto-Experiment waren wir uns sicher, dass das Gehirn auch einen gelähmten Körper befreien könnte, mittels eines externen Körpergerüsts wieder zu gehen.“ Es war allerdings klar, dass technische Fortschritte nötig wären, um ein relativ kompaktes und leichtes Exoskelett zu konstruieren. Außerdem würde visuelles Feedback allein nicht ausreichen: Für die Steuerung des Exoskeletts und ein besseres Sicherheitsgefühl des Patienten wäre zusätzlich der Tastsinn erforderlich. Die Herausforderung war also, einem gelähmten Menschen nicht nur die Fähigkeit zum Gehen zu geben, sondern zugleich das Gefühl, den Boden zu berühren.
Eine vielseitige Lösung
Als Cheng im Jahr 2010 an die TUM wechselte, legte er einen Forschungsschwerpunkt seines neugegründeten Instituts darauf, die Technik der taktilen Wahrnehmung für robotische Systeme voranzutreiben. Das Ergebnis, CellulARSkin, bietet ein Konzept für ein robustes und selbstorganisierendes Netzwerk von Sensoren. Es kann mit standardisierten, weithin verfügbaren Hardwarekomponenten implementiert werden und wird künftig von Verbesserungen hinsichtlich Größe, Leistungsfähigkeit und Kostensenkungen profitieren.
Die Basiseinheit ist ein flaches, sechseckiges Paket elektronischer Komponenten, das einen energiesparenden Mikroprozessor enthält sowie Sensoren, die Berührungsnähe, Druck, Vibration, Temperatur und sogar Bewegung im dreidimensionalen Raum erfassen. Beliebig viele dieser „Zellen“ können in einem bienenwabenförmigen Muster miteinander vernetzt werden – im derzeitigen Prototyp geschützt durch eine gummiartige Formhaut aus Elastomer.
„Nicht nur die Sensoren sind wichtig“, sagt Cheng. „Die Intelligenz der Sensorik ist sogar noch wichtiger.“ Die Zusammenarbeit der Sensorzellen untereinander und mit dem Zentralsystem erlaubt CellulARSkin, sich für spezifische Anwendungen zu rekonfigurieren und sich von bestimmten Arten von Schäden automatisch zu erholen. Diese Funktionalität ermöglicht eine intelligentere, sicherere Interaktion von Maschinen mit Menschen, sowie die schnelle Einrichtung von Industrierobotern – wie zum Beispiel in dem EU-geförderten Forschungsprojekt „Factory in a Day“(Fabrik in einem Tag).
Im Walk-Again-Projekt wird CellulARSkin auf zweierlei Arten verwendet. In das Exoskelett integriert, beispielsweise an den Fußsohlen, sendet die künstliche Haut Signale an kleine Motoren, die an den Armen des Patienten vibrieren. Durch Training mit dieser Art der indirekten sensorischen Rückmeldung kann ein Patient lernen, die Roboter-Beine und Füße in seine eigenen Körperschemata zu integrieren. CellulARSkin wird außerdem um bestimmte Körperteile des Patienten gewickelt, um dem medizinischen Team eventuelle Anzeichen von Stress oder Unbehagen zu übermitteln.
Ein Meilenstein, aber „nur der Anfang“
„Ich vermute, dass manche den Weltcup-Auftakt als den Schlusspunkt einer Entwicklung sehen werden“, sagt Cheng, „aber in Wirklichkeit ist es nur der Anfang. Dies mag ein wichtiger Meilenstein sein, aber es gibt noch sehr viel mehr zu tun.“ Er sieht die Veranstaltung als öffentliche Demonstration, was Wissenschaft für die Menschen tun kann. „Außerdem sehe ich es als große Anerkennung für die Tapferkeit und harte Arbeit der Patienten!“
Kontakt:
Prof. Gordon Cheng
Institute for Cognitive Systems
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Tel: +49 89 289 26800
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