Schwingende Atome schalten die elektrische Polarisation von Kristallen

Abb. 1: Kristallgitter des ferroelektrischem Ammoniumsulfats mit verkippten Ammonium-Tetraedern und Sulfat-Tetraedern sowie Stationäre Elektronendichte von Schwefel und Sauerstoffatomen MBI Berlin

Ferroelektrische Kristalle besitzen eine makroskopische elektrische Polarisation, die durch die Überlagerung sehr vieler Dipole auf atomarer Skala hervorgerufen wird. Entscheidend ist dabei die räumliche Trennung von negativ geladenen Elektronen und positiv geladenen Atomkernen.

Man erwartet eine Änderung der makroskopischen Polarisation, sobald die Atome in Bewegung versetzt werden; der Zusammenhang zwischen atomarer Bewegung und Polarisation ist jedoch unbekannt.

Ein zeitaufgelöstes Röntgenexperiment zeigt jetzt, dass atomare Schwingungen mit einer winzigen Auslenkung Elektronen über eine 1000-fach größere Distanz zwischen Atomen verschieben und die makroskopische Polarisation auf einer Zeitskala von einem Millionstel einer Millionstel Sekunde umschalten.

Ferroelektrische Materialien sind von großer Bedeutung für Anwendungen in elektronischen Sensoren, Speichern und Schaltelementen. Für ihre Funktion ist eine kontrollierte und schnelle Veränderung der elektrischen Eigenschaften durch externe mechanische Kräfte oder elektrische Spannungen wichtig.

Dies erfordert ein Verständnis des Zusammenhangs zwischen der atomaren Struktur und den makroskopischen elektrischen Eigenschaften, einschließlich der physikalischen Mechanismen, die eine schnellstmögliche Dynamik der makroskopischen Polarisation bestimmen.

Wissenschaftler des Max-Born-Instituts in Berlin haben jetzt gezeigt, wie atomare Schwingungen die makroskopische elektrische Polarisation des prototypischen Ferroelektrikums Ammoniumsulfat [Abb. 1] auf der Zeitskala weniger Pikosekunden modulieren (1 Pikosekunde (ps) = 1 Millionstel einer Millionstel Sekunde).

In der neuesten Ausgabe der Zeitschrift Structural Dynamics [5, 024501 (2018)] berichten sie über ein Röntgenexperiment im Ultrakurzzeitbereich, das die quantitative Aufzeichnung von Ladungsbewegungen über Distanzen im Bereich von Atomdurchmessern erlaubt (10 hoch -10 m = 100 Pikometer). In den Messungen versetzt ein ultrakurzer optischer Anregeimpuls Atome des Materials, eines aus kleinen Kristalliten bestehenden Pulvers, in Schwingung.

Ein zeitlich verzögerter harter Röntgenimpuls wird an der angeregten Probe gebeugt, um die momentane atomare Anordnung in Form eines Röntgenbeugungsmusters zu erfassen. Die Abfolge solcher Schnappschüsse ergibt einen Film der sog. Ladungsdichtekarte, aus der die räumliche Verteilung der Elektronen und die atomaren Bewegungen für jeden Zeitpunkt bestimmt werden. ([Abb. 2], [Movie]).

Die Elektronendichtekarten zeigen eine Elektronenbewegung über Längen von 100 Pikometern (pm), mehr als 1000-mal größer als die Auslenkungen der Atome [Abb. 3]. Dieses Verhalten bestimmt die momentanen lokalen Dipole auf atomarer Skala [Abb. 1].

Es wird durch das komplexe Zusammenwirken lokaler elektrischer Felder und polarisierbarer Elektronenwolken der Atome verursacht. Mit einem neuartigen theoretischen Formalismus lässt sich nun aus den zeitabhängigen Ladungsverteilungen in der atomaren Welt die elektrische Polarisation in der makroskopischen Welt bestimmen [Abb. 3]. Die makroskopische Polarisation wird durch die atomaren Schwingungen stark moduliert und kehrt im Takt mit den Schwingungen sogar ihr Vorzeichen um.

Die Modulationsfrequenz von 300 GHz ist durch die atomare Schwingungsfrequenz bestimmt und entspricht einer Richtungsumkehr der Polarisation innerhalb von 1.5 ps, viel schneller als in derzeit existierenden ferroelektrischen Bauelementen. An der Oberfläche eines Kristallits treten dabei elektrische Felder von ungefähr 700 Millionen Volt pro Meter auf.

Diese Ergebnisse etablieren die zeitaufgelöste Ultrakurzzeit-Röntgenbeugung als neue Methode für die Verknüpfung atomarer Dynamik mit makroskopischen elektrischen Eigenschaften. Damit können quantentheoretische Vorhersagen elektrischer Eigenschaften überprüft und neue polare oder ionische Materialien im Hinblick auf ihre Eignung für Höchstfrequenzelektronik charakterisiert werden.

Bildmaterial inkl. ausführlicher Bildunterschriften und Movie stehen auf der MBI-Website zur Verfügung: https://www.mbi-berlin.de/de/current/index.html#2018_04_12

Originalveröffentlichung:
Christoph Hauf, Antonio-Andres Hernandez Salvador, Marcel Holtz, Michael Woerner, and Thomas Elsaesser, Soft-mode driven polarity reversal in ferroelectrics mapped by ultrafast x-ray diffraction, Struct. Dyn. 5, 024501 (2018). https://aca.scitation.org/doi/10.1063/1.5026494

Kontakt:
Max-Born-Institut für Nichtlineare Optik und Kurzzeitspektroskopie (MBI)
Dr. Michael Wörner, Tel.: 030 6392 1470
Dr. Christoph Hauf, Tel.: 030 6392 1473
Prof. Dr. Thomas Elsaesser, Tel.: 030 6392 1400
https://www.mbi-berlin.de

Weitere Informationen:

https://www.mbi-berlin.de/de/current/index.html#2018_04_12
https://aca.scitation.org/doi/10.1063/1.5026494

Media Contact

Dipl.-Geogr. Anja Wirsing Forschungsverbund Berlin e.V.

Alle Nachrichten aus der Kategorie: Energie und Elektrotechnik

Dieser Fachbereich umfasst die Erzeugung, Übertragung und Umformung von Energie, die Effizienz von Energieerzeugung, Energieumwandlung, Energietransport und letztlich die Energienutzung.

Der innovations-report bietet Ihnen hierzu interessante Berichte und Artikel, unter anderem zu den Teilbereichen: Windenergie, Brennstoffzellen, Sonnenenergie, Erdwärme, Erdöl, Gas, Atomtechnik, Alternative Energie, Energieeinsparung, Fusionstechnologie, Wasserstofftechnik und Supraleittechnik.

Zurück zur Startseite

Kommentare (0)

Schreiben Sie einen Kommentar

Neueste Beiträge

Größte bisher bekannte magnetische Anisotropie eines Moleküls gemessen

An der Berliner Synchrotronstrahlungsquelle BESSY II ist es gelungen, die größte magnetische Anisotropie eines einzelnen Moleküls zu bestimmen, die jemals experimentell gemessen wurde. Je größer diese Anisotropie ist, desto besser…

Tsunami-Frühwarnsystem im Indischen Ozean

20 Jahre nach der Tsunami-Katastrophe… Dank des unter Federführung des GFZ von 2005 bis 2008 entwickelten Frühwarnsystems GITEWS ist heute nicht nur der Indische Ozean besser auf solche Naturgefahren vorbereitet….

Resistente Bakterien in der Ostsee

Greifswalder Publikation in npj Clean Water. Ein Forschungsteam des Helmholtz-Instituts für One Health (HIOH) hat die Verbreitung und Eigenschaften von antibiotikaresistenten Bakterien in der Ostsee untersucht. Die Ergebnisse ihrer Arbeit…