Szenario 2060: Park-Raum statt Parkraum
Das Geschrei auf dem von Kastanien umsäumten Platz lenkt ihn vom Nachrichtenvideo seiner Tageszeitung ab. Ohne den Blick nochmals auf die Zeitung zu senken, rollt Micha, der Konditor des Viertels, diese zusammen und verfolgt interessiert das Geschehen. Seine Frau Karla jagt ihre gemeinsame Tochter Frieda und deren Gänserich Leopold um den Brunnen. Leopold liebt Kuchen. Besonders den von Michas Gästen, denen er Stücke vom Teller stibitzt, wenn sie sie neben den Liegestühlen der Konditorei abstellen.
Zentrale Datenplattformen funktionieren wie Ökosysteme und steuern die Stadt
Micha grinst. Seine Tochter hatte das Gänseküken als Willkommensgeschenk der C.O.S.Y. AG ausgesucht, als sie dort als Franchise-Unternehmer einstiegen. Die C.O.S.Y. AG ist ein global betriebenes Unternehmen, das mehrere Trends aufgreift – den Zeitgeist in der Stadtentwicklung und jenen im soziologischen Sinn.
Der Name „Complete Organic Social Yard“, kurz C.O.S.Y., steht für Nachhaltigkeit, Regionalität, ein funktionierendes soziales Gefüge und gemeinsam genutzten öffentlichen Raum. Vor zwei Jahren hat Micha mit seiner Frau Frieda eine urbane Konditorei im Sinne der C.O.S.Y.-Philosophie eröffnet. Das Gebäude, in dem ihr Betrieb untergebracht ist, bietet zusätzlich zu Wohn- und Geschäftsräumen auch Anbauflächen für Nahrungsmittel.
Den Nachhaltigkeitsgedanken verfolgt die C.O.S.Y. AG bereits in der Auswahl der Standorte. Heute spricht niemand mehr über smarte Gebäude, denn es ist längst Standard geworden, dass diese in jeglicher Hinsicht vernetzt und in ein stadtübergreifendes Datenmanagementsystem eingebettet sind. Doch als sich C.O.S.Y. gegründet hatte und Micha und seine Frau erstmals darüber nachdachten, zurück in die Stadt zu gehen, war das ein ganz entscheidender Faktor.
Die C.O.S.Y.-Gebäude waren unter den Pionieren, die die bis dahin aus der Industrie bekannten Automatisierungs- und Visualisierungstechnologien einsetzten, dank derer nach und nach auch Gebäude, Straßenzüge und schließlich ganze Stadtviertel mit all ihren Daten erhoben, integriert und verwaltet werden konnten.
Das war ein erster Schritt hin zu den CIPs, die aus der Masse der Daten konkrete Entscheidungshilfen zur Optimierung von Verkehr, Energiemanagement, Wasserver- und -entsorgung und ganz grundsätzlich zur Stadtplanung ableiten. Mittlerweile funktionieren sie wie Daten-Ökosysteme, die sich selbst verwalten: Mobilität, Energie, Wasser, Emissionen, alles steckt in einem System, das aus der Masse der Daten schlaue Daten macht, auf Basis neuronaler Netze permanent dazulernt und heute den Betrieb der städtischen Infrastruktur in puncto Effizienz selbstständig optimiert.
Die dezentrale Energieversorgung ist Realität
Die Tatsache, dass dadurch unter anderem Energieangebot und -nachfrage exakt aufeinander abgestimmt sind, hat die Energiekosten der Städte signifikant reduziert. Dies ging Hand in Hand mit der Tatsache, dass endlich vernünftige Speichertechnologien gefunden wurden und dadurch die Dezentralisierung der Energieerzeugung flächendeckend umgesetzt werden konnte.
Das hatte auch zu einer gewissen Veränderung in Michas Job geführt. Von dringenden Anfragen abgesehen, bäckt er nur dann, wenn ihm eine Push-Mitteilung auf dem Smartphone sagt, dass in ein, zwei oder drei Stunden der ideale Moment dafür wäre. Das ist beispielsweise der Fall, wenn die Sonne scheint und die Kollektoren an der Fassade des Gebäudes speist.
„Schon ein Luxus“, freut sich Micha, „ich genieße selbst die Sonne, während die Speicher unseres dezentralen Systems laden, und kann dann mit ihrer Energie Kuchen backen.“ Die Kollektoren sind mittlerweile so ausgereift, dass sie – gemeinsam mit den sehr kleinen, aber höchst effizienten Windrädern auf dem Dach – das Gebäude zu einem leistungsfähigen Energielieferanten machen.
Seine Konditorei befindet sich im Erdgeschoss des schlauen Gebäudes. Bei schönem Wetter stellt Micha Tische und Stühle auf den Platz in den Halbschatten der Kastanien. Der C.O.S.Y.-Hof bietet auch angegliederten Branchen Raum, da die Primärprodukte selbst vermarktet werden. So ist mitten in der Metropole immer mehr Lebens- und Arbeitsraum entstanden.
Gemeinsam joggen an Seine, Tiber oder Hudson? Holoräume machen es möglich
Zusätzlich zum üblichen Konditoreibetrieb bieten Micha und seine Frau sogenannte Holoräume an. Die zunehmende globale Vernetzung hatte ja zunächst dazu geführt, dass Menschen fast alles, wofür man früher vor die Tür gehen musste – Arbeit, Einkäufe, Kino, Theater –, von zu Hause aus erledigten. Das hatte zwar die Emissionen in den Städten drastisch reduziert, aber die Menschen wurden einsam und unglücklich.
Deshalb sind die Holoräume so populär: Sie ermöglichen es, in einem realen Kaffee zu sitzen oder auf einem Laufband zu laufen und dabei andere Menschen im virtuellen Raum zu treffen, die das Gleiche tun. Gemeinsam entscheidet man sich, ob man an der Seine, am Tiber oder am Hudson entlangjoggen möchte.
Für Micha ist das sehr lukrativ: Sein Registrierteppich, der die Mitglieder an Gang und Gewicht erkennt, hat mittlerweile die Daten von mehr als 1.100 Jahresmitgliedschaften gespeichert – und das, obwohl seine Familie das C.O.S.Y. erst seit einem Jahr betreibt.
Vorratskammern, die sich selbst auffüllen
„Ich hätte niemals gedacht, dass das noch mal zur Option werden würde“, dachte Micha, als er sich an das Erscheinungsbild früherer Städte erinnerte. Im Alltag vergaß er oft, was sich alles geändert hatte. Als er ein Kind war, waren die Ballungsgebiete laut und voller Autos, die Luft verschmutzt. Seitdem es nur noch Elektroautos gibt und die Hauptstraßen unterirdisch verlagert wurden, ist das anders: Heute gleichen sie großen Dörfern – urban und doch mit der Geborgenheit menschlicher Gemeinschaft.
Michas Smartphone reißt ihn aus seinen Erinnerungen: Die Annahmestation, die den Kühlraum der Konditorei selbstständig auffüllt, meldet, dass das autonome Lieferantenfahrzeug des Großhandels alle Zutaten für Karls Hochzeitstorte geliefert hat. Der Facility-Manager der C.O.S.Y. AG hatte sie bei Micha bestellt. Der seufzt. Die Ladekurve der Gebäudespeicher, die ihm sein Handy in Echtzeit anzeigt, ist keine Ausrede, noch länger versonnen in den Tag zu blicken. Alles im grünen Bereich. Ideal, um an die Arbeit zu gehen. Susanne Gold
Weitere Informationen: www.siemens.com
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