Modelle der Bildung ozeanischer Krusten in Frage gestellt
Im Sommer 2001 bereiste das Forschungsschiff „Polarstern“ des Alfred-Wegener-Instituts (AWI) die Arktis, um eine Nahtstelle der Kontinentalverschiebung zu erforschen. Am Gakkel-Rücken, einem bis zu 3000 Meter hohen Gebirgszug tief unter dem arktischen Meereis, quillt heißes Magma aus dem Boden, bildet neuen Meeresboden und drückt damit die Kontinentalplatten von Nordamerika und Eurasien auseinander. Die Messergebnisse der AWI-Forscher und ihrer Kollegen, die am 26. Juni 2003 in zwei Artikeln in Nature (Vol 423) publiziert werden, stellen bisherige Modelle zu Vorgängen an mittelozeanischen Rücken in Frage.
Die im Jahr 2001 gemessenen Werte für die Dicke der Erdkruste und für die Geschwindigkeit, mit der neuer Meeresboden entsteht (Spreizungsgeschwindigkeit), entsprechen nicht dem erwarteten Verhältnis. „Damit müssen die Vorgänge, die bei der Bildung neuer ozeanischer Kruste ablaufen, neu überdacht werden. Entweder müssen die Modelle überarbeitet werden oder der Gakkel-Rücken stellt einen vollkommen neuen Typ von mittelozeanischem Rücken dar“, sagt Dr. Wilfried Jokat, Geophysiker und Arbeitsgruppenleiter am AWI.
In dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der National Science Foundation geförderten Projekt untersuchten Geophysiker des AWI auf der „Polarstern“ gemeinsam mit Wissenschaftlern an Bord des amerikanischen Forschungseisbrechers „Healy“ den Meeresboden. Sie fanden in unterschiedlichen Teilgebieten des rund 1800 Kilometer langen Gakkel-Rückens sehr unterschiedliche Strukturen vor. So entdeckten sie in einem Bereich zahlreiche kleine Vulkane, aus denen es regelrecht brodelt. In einem anderen Gebiet fanden sie gar keine Vulkankegel vor. Dort drückt das Magma bereits tiefer im Boden die Erdkruste auseinander und bildet neuen Meeresboden. Der dritte Bereich schließlich weist Querrücken auf, die fast ebenso hoch sind wie das Gebirge selbst. Gesteinsproben, die von Bord beider Schiffe aus genommen wurden, zeigten sehr unterschiedliche und untypische chemische Zusammensetzungen in den verschiedenen Gebieten des Gebirges.
„Offenbar ist der Prozess der Entstehung neuen Meeresbodens am Gakkel-Rücken nicht überall derselbe und folgt nicht den bisherigen Modellvorstellungen“, erklärt Dr. Mechita Schmidt-Aursch, Mitarbeiterin von Jokat. „Es muss sich um unterschiedliche Mechanismen handeln.“
Für die refraktionsseismischen Vermessungen des Meeresbodens war es erforderlich, mit zwei Forschungsschiffen gemeinsam in der Arktis zu arbeiten. Der amerikanische Forschungseisbrecher „Healy“ machte für „Polarstern“ eine Eisrinne frei, damit diese mit dem Luftpulser frei fahren und arbeiten konnte. Messstationen auf dem Meereis registrierten die seismischen Wellen, die von den verschiedenen Schichten im Meeresgrund zurückgeworfen wurden. Um Spreizungsgeschwindigkeit und Alter zu bestimmen, untersuchten die Wissenschaftler das Gebiet mit hochauflösenden Messungen des Erd-Magnetfeldes von einem Hubschrauber aus.
Der Gakkel-Rücken liegt auf halbem Wege zwischen Spitzbergen und dem Nordpol. Er gehört zum mittelatlantischen Rückensystem, das in der Laptewsee vor Sibirien beginnt und sich am Nordpol vorbei zwischen Grönland und Spitzbergen den Atlantik hinunter bis zur Antarktis erstreckt. Hier findet die eigentliche Kontinentalverschiebung statt: Europa (Afrika) und Amerika entfernen sich jährlich um einige Zentimeter von einander. Die Kontinentalverschiebung wurde am 6. Januar 1912 erstmals von Alfred Wegener, dem Namensgeber des AWI, propagiert. Der Gakkel-Rücken zeigt mit etwa einem Zentimeter pro Jahr die langsamste Spreizungsbewegung dieser Art auf der Welt. Er ist deshalb ein wichtiger Prüfstein für wissenschaftliche Modelle.
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