Max-Planck-Doktorand entdeckt "lebende Fossilien"

  • Lebende Vertreter einer neuen Insektenordnung in Namibia gefunden
  • Fossile Vorfahren in 45 Millionen Jahre altem Bernstein

Zum ersten Mal seit 87 Jahren haben Wissenschaftler Insekten gefunden, die einer neuen Insektenordnung zuzurechnen sind. Während der Expedition einer internationalen Entomologen-Gruppe aus Deutschland, England, Südafrika, Namibia und den USA zu den Brandberg Mountains in Namibia wurden die vorläufig „Gladiator“ genannten räuberischen Tiere, die einer Mischung aus Stabschrecke und Gottesanbeterin ähneln, in der freien Natur entdeckt. Zuvor war Oliver Zompro, Expeditionsteilnehmer und Doktorand am Max-Planck-Institut für Limnologie in Plön, auf diese Lebensform in 45 Millionen Jahre altem Bernstein und in noch nicht klassifizierten Sammlungsstücken mehrerer europäischer Museen gestoßen. Die neue Insektenordnung wird in der „Science“-Ausgabe vom 18. April 2002 vorgestellt. Ihre Entdeckung ist für Entomologen wie Piotr Naskrecki, Direktor der „Invertebrate Diversity Initiative“ in der Artenschutz-Organisation „Conservation International“, „als würde man heute ein Mammut oder einen Säbelzahntiger finden“. Mit der Mantophasmatodea getauften neuen Ordnung erhöht sich die Zahl der weltweit bekannten Insektenordnungen auf 31.

Insekten, (lateinisch insectum, eigentlich „eingeschnittenes Tier“) stellen mit über 1,2 Mio. beschriebenen Arten etwa 80 Prozent aller lebenden Tierarten auf der Erde. Jährlich werden immer noch zahlreiche weitere Arten gefunden und beschrieben. Doch eine neue Insektenordnung wurde zuletzt 1915, also vor 87 Jahren, entdeckt.

Entdeckungsgeschichte

Oliver Zompro, Diplom-Biologe und Doktorand in der Arbeitsgruppe Tropenökologie am Max-Planck-Institut für Limnologie in Plön (Betreuer Prof. Dr. Joachim Adis), entdeckte im vergangenen Jahr in 45 Millionen Jahre altem baltischen Bernstein neben einer neuen Familie der Stabschrecken (Archipseudophasmatidae) mehrere Tiere, die keiner bekannten Insektenordnung zuzuschreiben waren. Die Proben stammten aus der Bernsteinsammlung des Geologisch-Paläontologischen Instituts der Universität Hamburg, dem Paläontologischen Institut des Berliner Museums für Naturkunde sowie aus zahlreichen Privatsammlungen. Bei einem Besuch des Britischen Museums für Naturkunde in London wurde Oliver Zompro ein genadeltes Insekt gezeigt, das 1950 in Tansania gesammelt worden war. Es war dem Britischen Museum vor 16 Jahren vom Museum in Lund/Schweden zur Bestimmung übersandt worden. Ein anderer, glasklarer Bernstein, den Zompro aus der Privatsammlung von Friedrich Kernegger zur Untersuchung bekam, enthielt ein erwachsenes Männchen (anschließend als Raptophasma kerneggeri Zompro, 2001, beschrieben in Mitt. Geol.-Paläont. Inst. Univ. Hamburg 85: 229-261, 2001). Die Ähnlichkeiten mit dem in London vorhandenen Tier waren unübersehbar. In dem noch unbestimmten Stabschrecken-Material im Berliner Museum für Naturkunde fand Zompro schließlich ein ähnlich aussehendes erwachsenes Weibchen, gesammelt in Namibia Anfang des 20. Jahrhunderts. Der Vergleich mit dem Tier im Bernstein ergab: Es musste sich – erstmals seit den Zoraptera im Jahre 1913 und den Grylloblattodea (= Notoptera) im Jahr 1915 – um eine neue Insektenordnung handeln.

„Abb. 1: Raptophasma kerneggeri Zompro, 2001 in Baltischem Bernstein, der älteste bekannte Repräsentant der neuen Insektenordnung Mantophasmatodea“ „(Foto © O. Zompro, MPIL Plön, Germany) „

Der deutsche Post-Doc Stipendiat Dr. Klaus-Dieter Klass und Prof. Dr. Niels Peder Kristensen vom Zoologischen Museum in Kopenhagen und Mitautoren der „Science“-Veröffentlichung halfen bei der Untersuchung der Bauplanstruktur (Morphologie, Anatomie) und der Abgrenzung zu den bis dahin bekannten Insektenordnungen. Ihre Detailstudien bestätigten zweifelsfrei, dass es sich um eine bislang unbekannte Insektenordnung handelt. Ihre genaue Stellung im System der Insekten ist jedoch noch ungeklärt. Die im Museum gesammelten Arten repräsentieren die Gattung Mantophasma (Körperlänge bis 2,5 cm), die Tiere im Berstein die Gattung Raptophasma (Körperlänge bis 1,5 cm).

Im Hinterleib des in Alkohol konservierten Weibchens aus Namibia (Museum für Naturkunde, Berlin) befanden sich etwa 40 Eier. Erste elektronenmikroskopische Untersuchungen der Oberflächenstruktur, durchgeführt von Joachim Adis am Plöner Max-Planck-Institut für Limnologie, weisen darauf hin, dass die Eier bei einer temporären Überflutung unter Wasser mit Luft versorgt werden, also mit Hilfe von „Plastronatmung“ überflutungsresistent sind und/oder dass sie eine hohe Austrocknungsresistenz besitzen. Im Darm des Weibchens wurden Kutikulareste von anderen Insekten gefunden, die, wie bei der in Bernstein konservierten Art, auf eine räuberische Ernährung hinweisen. Dornenreihen an den Vorder- und Mittelbeinen deuten darauf hin, dass die Tiere ihre Beute mit den Beinen festhalten, wie es auch manche insektenfressende, heuschreckenartige Vertreter (Orthoptera) tun.

Eine ausführlichere Beschreibung der neuen Insektenordnung „Mantophasmatodea“ erscheint im Herbst in der Fachzeitschrift „Zoologischer Anzeiger“. Ende dieses Jahres wird eine deutsche Zusammenfassung in einer neuen Auflage des entomologischen Standardwerkes „Kästner – Lehrbuch der Speziellen Zoologie“ veröffentlicht.

Von den beiden in Museen gefundenen Tieren schickte Joachim Adis weltweit Fotos an Museen und Wissenschaftler mit der Bitte um Nachforschung nach weiterem Sammlungsmaterial. Dr. Eugène Marais, Nationalmuseum in Windhuk, schickte den Forschern einen Hinweis, dass zwei ähnlich aussehende Tiere 1990 und 2001 in Namibia gefunden worden seien. Die beiden nach Plön übersandten Exemplare repräsentierten zwei weitere neue Arten einer dritten neuen Gattung und bestätigten gleichzeitig, dass Vertreter der neuen Insektenordnung bis heute überlebt haben – über mindestens 45 Millionen Jahre.

Forschungsexpedition zum Brandberg

„Abb. 2: Der Brandberg in Namibia – das Zuhause des „Gladiator“ “ „Quelle(Foto © Thomas Kujawski/ASA-Multimedia, Flintbek, Germany; www.mpg.de/pri02/kujawski@asa-multimedia.de) „

Im Januar 2002 wurde ein wissenschaftlicher Kooperationsvertrag zwischen dem Namibischen Nationalmuseum in Windhuk und dem Max-Planck-Institut für Limnologie (Arbeitsgruppe Tropenökologie; Leiter Prof. Dr. W.J. Junk) in Plön unterzeichnet, in dem die namibische Regierung den beiden Kooperationspartnern sämtliche Rechte zur Erforschung und Dokumentation der neuen Insektenordnung für sechs Jahre erteilt. Hauptziel der Untersuchungen sind Biologie, Ökologie, Vorkommen, Genetik, Evolution und insbesondere der Schutz der Insekten. Dazu gehören unter anderem der Aufbau einer Typensammlung neu beschriebener Arten im Museum in Namibia und die Verteilung von Belegexemplaren an ausgesuchte Museen auf jedem Kontinent der Erde, die Ausbildung von namibischen Studenten im Umgang mit den Tieren im Freiland und im Labor, die Zusammenarbeit mit international renommierten Wissenschaftlern mit dem Ziel gemeinsamer Publikationen der erarbeiteten Ergebnisse sowie die Beschaffung von Drittmitteln für die Forschungsaktivitäten.

„Abb. 3: Der Lebensraum des „Gladiator“ auf dem Brandberg in Namibia“ „(Foto © Thomas Kujawski/ASA-Multimedia, Flintbek, Germany; kujawski@asa-multimedia.de) „

Die erste wissenschaftliche Expedition in Namibia fand von 28. Februar bis 19. März 2002 statt, um nach der noch unbeschriebenen Art – Arbeitsname „Gladiator“, benannt wegen der Ähnlichkeit zu gepanzerten Kämpfern in dem gleichnamigen Film – auf dem Brandberg in der Erongo-Provinz zu suchen. Der fast 2600 Meter hohe Inselberg ist schon länger für Tierarten bekannt, die nur in diesem Gebiet vorkommen. Die Region vom Brandberg ist namibischer Nationalpark und soll wegen seiner einmaligen Felszeichnungen als Weltkulturerbe (UNESCO) vorgeschlagen werden. Das Gebiet darf nur mit Genehmigung besucht werden, was für den Schutz der neuen Insektenordnung gegen Biopiraterie besonders wichtig ist. Am Brandberg hatten – wie sich herausstellte – bereits Wissenschaftler der Universität Leeds und des Museums Windhuk bei gemeinsamen Expeditionen zwischen 1998 und 2000 Exemplare dieser Insektenart gefunden. Das internationale Expeditionsteam von 2002 wurde jetzt ebenfalls fündig, nicht nur am Brandberg, sondern auch am Kuduberg im Erongo-Gebirge entdeckten sie lebende „Gladiatoren“, aber auch einer weiteren Art dieser Ordnung.

„Abb. 4: Gladiator Nymphe auf dem Brandberg in Namibia “ „(Foto © Thomas Kujawski/ASA-Multimedia, Flintbek, Germany; www.mpg.de/pri02/kujawski@asa-multimedia.de)“

Die in der Region um den Brandberg gesammelten „Gladiatoren“ befinden sich jetzt in den Klimakammern des Max-Planck-Instituts für Limnologie. In den molekularbiologischen Labors der Universität Leeds in England (Prof. R. Butlin) und der Brigham Young Universität in Provo, USA (Dr. M.F. Whiting) werden inzwischen erste DNS-Analysen durchgeführt, um die genaue Zuordnung der Ordnung Manthophasmatodea zum Stammbaum der Insekten zu klären.

Videoclip: „Gladiator“ – a new insect Order (99 sec.) (17 MB) by Joachim Adis & Kurt Hirschel, 4/2002; © Adis@mpil-ploen.mpg.de & K_Hirschel@t-online.de)

Original-Veröffentlichungen: Klass, K.-D., Zompro, O., Kristensen, N. P. & Adis, J. 2002. Mantophasmatodea: a new insect order with extant members in the Afrotropics. Science, 18. April 2002. Lenssen-Erz, T. & Erz, M.-T. 2000. Brandberg – der Bilderberg Namibias. Jan Thorbecke Verlag, ISBN 3-7995-9030-7. Zompro, O.: The Phasmatodea and Raptophasma n.gen., Orthoptera incertae sedis, in Baltic amber (Insecta: Orthoptera). Mitt. Geol.-Paläont. Inst. Univ. Hamburg 85: 229-261, 2001]. Zompro, O., Adis, J. & Weitschat, W. 2002. A review of the Order Mantophasmatodea (Insecta). Zool. Anz., im Druck.

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Dr. Bernd Wirsing Dr. Bernd Wirsing

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