Fossile Vögel: Zum Zähne ausbeißen

Schädel und Halswirbel von Perplexicervix microcephalon aus dem frühen Eozän von Messel.
(c) Senckenberg

Senckenberg-Wissenschaftler Dr. Gerald Mayr hat gemeinsam mit einem internationalen Forschungsteam ungewöhnliche Skelett-Strukturen verschiedener europäischer Vogel-Fossilien aus dem Eozän untersucht. Die Knochenoberflächen der etwa 40 bis 50 Millionen Jahre alten Halswirbel weisen auffällige knotenförmige Verdickungen auf, deren Ursprung bisher nicht geklärt werden konnte. In einer jetzt im wissenschaftlichen Fachjournal „Journal of Anatomy“ erschienenen Studie kommen die Wissenschaftler*innen auf Grundlage modernster Mikro-Computertomographie-Analysen zu dem Schluss, dass die Tuberkel als Teil eines inneren „Panzers“ zum Schutz vor tödlichen Raubtier-Nackenbissen gedient haben könnten.

Viele Tierarten haben im Laufe der Evolution unterschiedliche Strategien zur Abwehr von Fressfeinden entwickelt – von geschickter Tarnung über Gifte bis zur abweisenden Panzerung. Eine ungewöhnliche Variante hat ein Forschungsteam um den Ornithologen Dr. Gerald Mayr vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt nun bei einer Gruppe von Vögeln aus dem Eozän identifiziert. „Wir haben eine Reihe fossiler Vogel-Halswirbel untersucht, die alle eine ausgeprägte knötchenartige Oberflächenstruktur aufweisen – ein auffälliges Merkmal, das bei heutigen Vögeln unbekannt ist. Wir vermuten, dass diese Tuberkel Teil einer schützenden ‚Verstärkung‘ der Halswirbelsäule sind“, erläutert Mayr.

Mikro-CT-Scans eines Halswirbels aus den Spaltenfüllungen des Quercy in Frankreich mit dichten Knötchen auf der Knochenoberfläche.
Mikro-CT-Scans eines Halswirbels aus den Spaltenfüllungen des Quercy in Frankreich mit dichten Knötchen auf der Knochenoberfläche. (c) Senckenberg

Zum ersten Mal wurden solche von auffälligen Knötchenstrukturen bedeckten Halswirbel bei etwa 48 Millionen Jahre alten Fossilien verschiedener Vogelarten aus der hessischen Fundstätte Grube Messel beobachtet, später auch bei ähnlichen Funden aus der London Clay Formation, die bis zu 53 Millionen Jahre alt sind. Der Ursprung der ungewöhnlichen Tuberkel blieb zunächst unklar. Als mögliche Erklärung wurde diskutiert, dass es sich um krankhafte Verwachsungen handeln könnte. „Das Verständnis des Phänomens wurde dadurch erschwert, dass uns diese fossilen Wirbel zunächst nur in Form flachgedrückter Fossilreste vorlagen. Jetzt hatten wir erstmals die Möglichkeit, vier weitere, dreidimensional erhaltene Exemplare zu untersuchen, die aus der französischen Fundstelle Quercy stammen“, berichtet Mayr. Für diese etwa 37 Millionen Jahre alten Halswirbel wurden nun mittels Mikro-Computertomographie hochauflösende Aufnahmen angefertigt, die eine umfassende und detaillierte Untersuchung ihrer Eigenschaften ermöglichten.

„Gegen einen pathologischen Ursprung der Knötchen spricht unter anderem, dass sie lokal beschränkt an den Halswirbeln auftreten und gleichzeitig an funktionell kritischen Strukturen wie etwa den Gelenkflächen fehlen“, so Mayr. „Die Mikro-CT-Scans zeigen zudem, dass die Knochensubstanz der Halswirbel sehr dicht ist. Die Halswirbel rezenter Vögel dagegen haben – von wenigen spezialisierten Tauchern abgesehen – luftgefüllte Hohlräume und sind deutlich fragiler. Vermutlich haben sich die Knötchenstrukturen gemeinsam mit der dichten Knochenstruktur evolutionär zur Verstärkung der schützenden Hülle um die hier verlaufenden lebenswichtigen Arterien, Nerven und das Rückenmark ausgebildet.“

Dass sich vergleichbare Knötchen auf normalem Wege entwickeln können, zeigt unter anderem der Schädel der afrikanische Mähnenratte Lophiomys imhausi, der mit ähnlichen Tuberkeln bedeckt ist. Das Nagetier entwickelte ungewöhnliche Verteidigungsstrukturen, um sich vor Raubtieren zu schützen. Das Forschungsteam interpretiert die Tuberkel der Mähnenratte und der fossilen Vögel als funktionelle Anpassungen, welche die Knochenstrukturen im Hinterkopf beziehungsweise im Nacken stärkten.

„Die von uns untersuchten Vögel, die zur ausgestorbenen Familie Perplexicervicidae gehören, waren vermutlich bodenbewohnend und zum Teil flugunfähig. Im Zeitalter des Eozäns lebten diese Vögel zusammen mit Raubsäugetieren, deren heutige Verwandte ihre Beute mit einem Nackenbiss töten. Es scheint plausibel, dass sich die auffälligen Wirbel der Vögel als Schutz ihres recht langen Halses vor solchen Nackenbissen entwickelt haben“, schließt Mayr. „Wenn unsere Hypothese stimmt, wären die eozänen Perplexicervicidae das erste bekannte Beispiel für einen solchen ‚inneren Knochenpanzer‘ bei Vögeln.“

Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Dr. Gerald Mayr
Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt
Tel. 069 7542 1348
gerald.mayr@senckenberg.de

Originalpublikation:

Mayr, G., Göhlich, U.B., Roček, Z., Lemierre, A., Winkler, V. & Georgalis, G.L. (2023) Reinterpretation of tuberculate cervical vertebrae of Eocene birds as an exceptional anti-predator adaptation against the mammalian craniocervical killing bite. Journal of Anatomy, 00, 1–9. https://doi.org/10.1111/joa.13980

www.senckenberg.de

Media Contact

Judith Jördens Senckenberg Pressestelle
Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung

Alle Nachrichten aus der Kategorie: Geowissenschaften

Die Geowissenschaften befassen sich grundlegend mit der Erde und spielen eine tragende Rolle für die Energieversorgung wie die allg. Rohstoffversorgung.

Zu den Geowissenschaften gesellen sich Fächer wie Geologie, Geographie, Geoinformatik, Paläontologie, Mineralogie, Petrographie, Kristallographie, Geophysik, Geodäsie, Glaziologie, Kartographie, Photogrammetrie, Meteorologie und Seismologie, Frühwarnsysteme, Erdbebenforschung und Polarforschung.

Zurück zur Startseite

Kommentare (0)

Schreiben Sie einen Kommentar

Neueste Beiträge

Größte bisher bekannte magnetische Anisotropie eines Moleküls gemessen

An der Berliner Synchrotronstrahlungsquelle BESSY II ist es gelungen, die größte magnetische Anisotropie eines einzelnen Moleküls zu bestimmen, die jemals experimentell gemessen wurde. Je größer diese Anisotropie ist, desto besser…

Tsunami-Frühwarnsystem im Indischen Ozean

20 Jahre nach der Tsunami-Katastrophe… Dank des unter Federführung des GFZ von 2005 bis 2008 entwickelten Frühwarnsystems GITEWS ist heute nicht nur der Indische Ozean besser auf solche Naturgefahren vorbereitet….

Resistente Bakterien in der Ostsee

Greifswalder Publikation in npj Clean Water. Ein Forschungsteam des Helmholtz-Instituts für One Health (HIOH) hat die Verbreitung und Eigenschaften von antibiotikaresistenten Bakterien in der Ostsee untersucht. Die Ergebnisse ihrer Arbeit…