Kippelemente bleiben "heißes" Thema
„Der Artikel gibt die Auffassung einer wachsenden Gruppe von Wissenschaftlern wieder, dass menschliche Aktivitäten das Erdklima schon heute regional destabilisieren“, sagen die Leitautoren.
Das Forscherteam um Tim Lenton von der britischen University of East Anglia in Norwich und Hans Joachim Schellnhuber, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), hat den Begriff „Kippelemente“ eingeführt. Er beschreibt Bestandteile des Erdsystems, die durch menschliche Einwirkung über kritische Grenzen hinaus belastet werden könnten. An der Schwelle zum „Kippen“ können schon kleine zusätzliche Störungen weit reichende Auswirkungen auf gesellschaftliche und ökologische Systeme haben. „Unser Artikel hat die Öffentlichkeit für hochgradig nicht-lineare Reaktionen auf menschliche Störungen des Klimasystems sensibilisiert“, sagt Hans Joachim Schellnhuber.
Ein Beispiel für ein Kippelement ist das arktische Meereis. Wenn es schmilzt, wird darunter die dunklere Wasseroberfläche sichtbar, die mehr Sonnenstrahlung aufnimmt. Das verstärkt die Erwärmung, bremst die Neubildung von Eis im Winter und lässt im Sommer das übrige Eis schneller abschmelzen. Die Ausdehnung des Eises im Sommer hat in den letzten drei Jahrzehnten jährlich um etwa 3,3 Prozent abgenommen. Wie im Kippelemente-Artikel berichtet wurde, könnte sich in wenigen Jahrzehnten ein neuer stabiler Zustand mit einer im Sommer eisfreien Arktis einstellen. Die kritische Belastungsgrenze könnte zwischen 0,5 und 2 Grad Celsius globaler Erwärmung liegen und bereits überschritten worden sein. Die Erde steht kurz davor, den kühlenden weißen Reflektor für die arktische Sommersonnenstrahlung zu verlieren, was die globale Erwärmung verstärken würde.
„Unser Artikel zeigt, dass wir die Vorstellung eines langsam und gleichmäßig verlaufenden Klimawandels aufgeben sollten“, sagt Tim Lenton. Der Zustand großer Regionen des Planeten könnte sich grundsätzlich ändern, in einigen Fällen abrupt, unumkehrbar und mit Auswirkungen auf Millionen Menschen. „Wir haben die zwingende wissenschaftliche Beweislage dafür ergänzt, dass der Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf zwei Grad Celsius begrenzt werden muss, um unbeherrschbare Auswirkungen des Klimawandels zu vermeiden“, sagt Schellnhuber.
Die Forscher haben die Dynamik von neun dieser Kippelemente beschrieben, darunter tropische Monsunsysteme, der Amazonas-Regenwald, der Kreislauf von Meeresströmungen im Atlantik und die großen Eisschilde Grönlands und der Westantarktis. „Damit haben wir die Forschungsinteressen und die Sorgen von Spezialisten auf recht unterschiedlichen Gebieten wie Klimatologie, Ökologie, Ozeanographie und Gletscherkunde zusammengebracht“, sagt Lenton. Die Studienergebnisse sind auch von Bedeutung für Wirtschaft und Politik und wurden von der britischen Zeitschrift „The Times Higher Education“ als Forschungsprojekt des Jahres 2008 ausgezeichnet.
Hans Joachim Schellnhuber hatte das Konzept Kippelement in die Forschergemeinschaft eingebracht. Die Forschungsarbeit zur Veröffentlichung des Artikels begann im Oktober 2005 mit einem Workshop in der Britischen Botschaft in Berlin. Dort hatten britische und deutsche Forscher das Konzept diskutiert und mögliche Kippelemente im Erdsystem identifiziert. Im darauf folgenden Jahr befragten die Koautoren Elmar Kriegler und Jim Hall weitere internationale Experten. Tim Lenton wertete die gesamte relevante wissenschaftliche Literatur aus. „Die größte Herausforderung bestand darin, die Beiträge der unterschiedlichen Koautoren, die Einschätzungen einer noch größeren Gruppe von Experten und die Fülle von Informationen aus der wissenschaftlichen Literatur zusammenzuführen und auszuwerten“, gaben die Autoren in einem Interview an, das kürzlich auf der Thomson-Reuters-Website „Sciencewatch“ veröffentlicht wurde.
Die Thomson Reuters New Hot Paper stammen aus dem „ISI Web of Knowledge“, der weltweit größten Sammlung hochqualitativer wissenschaftlicher Literatur. Ein Hot Paper ist eine Arbeit, die vor weniger als zwei Jahren erschienen ist und in Wissenschaftsmagazinen deutlich häufiger zitiert wird als vergleichbare Studien.
Artikel: Lenton, T., H. Held, E. Kriegler, J. Hall, W. Lucht, S. Rahmstorf, and H. J. Schellnhuber, 2008: Tipping elements in the Earth's climate system. Proceedings of the National Academy of Sciences, 105, 1786-1793.
Media Contact
Weitere Informationen:
http://sciencewatch.com/dr/nhp/2009/09julnhp/09julnhpLentET/ http://nsidc.org/arcticseaicenews/Alle Nachrichten aus der Kategorie: Geowissenschaften
Die Geowissenschaften befassen sich grundlegend mit der Erde und spielen eine tragende Rolle für die Energieversorgung wie die allg. Rohstoffversorgung.
Zu den Geowissenschaften gesellen sich Fächer wie Geologie, Geographie, Geoinformatik, Paläontologie, Mineralogie, Petrographie, Kristallographie, Geophysik, Geodäsie, Glaziologie, Kartographie, Photogrammetrie, Meteorologie und Seismologie, Frühwarnsysteme, Erdbebenforschung und Polarforschung.
Neueste Beiträge
Die Roboterhand lernt zu fühlen
Fraunhofer IWS kombiniert Konzepte aus der Natur mit Sensorik und 3D-Druck. Damit Ernteroboter, U-Boot-Greifer und autonome Rover auf fernen Planeten künftig universeller einsetzbar und selbstständiger werden, bringen Forschende des Fraunhofer-Instituts…
Regenschutz für Rotorblätter
Kleine Tropfen, große Wirkung: Regen kann auf Dauer die Oberflächen von Rotorblättern beschädigen, die Leistungsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit von Windenergieanlagen können sinken, vor allem auf See. Durch die Entwicklung innovativer Reparaturlösungen…
Materialforschung: Überraschung an der Korngrenze
Mithilfe modernster Mikroskopie- und Simulationstechniken konnte ein internationales Forschungsteam erstmals beobachten, wie gelöste Elemente neue Korngrenzphasen bilden. Mit modernsten Mikroskopie- und Simulationstechniken hat ein internationales Forscherteam systematisch beobachtet, wie Eisenatome…