Kurzlebige Eisströme

Messkampagne mit dem Ultra-Breitband-Eisradar
Bild: Alfred-Wegener-Institut / Tobias Binder

Radarmessungen des grönländischen Eisschildes zeigen Abschalten und Neuausrichtung von Eisströmen innerhalb von wenigen tausend Jahren.

Große Eisströme können ihre Aktivität innerhalb von wenigen tausend Jahren einstellen und den schnellen Eisabtransport auf andere Gebiete des Eisschildes verlagern. Das zeigt die Rekonstruktion zweier Eisströme auf Basis von eisdurchdringenden Radarmessungen im grönländischen Eisschild, die Forschende unter Leitung des Alfred-Wegener-Instituts jetzt in der Fachzeitschrift Nature Geoscience vorstellen.

Wie schnell der Meeresspiegel zukünftig ansteigt, hängt unter anderem stark davon ab, wie dynamisch oder stabil der grönländische Eisschild ist, der seit dem Jahr 1900 durch seinen Masseverlust bereits etwa 40 mm zum Meeresspiegelanstieg beitrug. Neben Schmelze an der Oberfläche und Unterseite verliert er Masse über Eisströme, das sind die Förderbänder für schnellen Eistransport vom Eisschildinneren zu den Rändern.

Ehemalige Verläufe der Ströme lassen sich an den mittlerweile gletscherfreien Gebieten am Rand gut rekonstruieren, da die hinterlassenen Landformen hier sichtbare Hinweise liefern. Über die Aktivität vergangener Eisströme im Inneren des grönländischen Eisschilds ist bisher jedoch wenig bekannt, da diese Umgebung nur schwer zu untersuchen ist.

Daher bedarf es modernster Messtechnik wie hochauflösende Radarsysteme (https://www.awi.de/im-fokus/eisschilde/das-neue-awi-eisradar.html), die dem Eis im wahrsten Sinne auf den Grund gehen und mehrere tausend Meter tiefe Strukturen im Inneren des Eisschilds abbilden können. Diese Bilder konnten Forschende des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) im Rahmen eines Projektes zur Rekonstruktion vergangener Eisströme in Kooperation mit Prof. Paul Bons von der Universität Tübingen mit Methoden der Strukturgeologie auswerten.

„Mit unseren eisdurchdringenden Radarmessungen können wir zeigen wie schnell sich das Eistransportsystem des grönländischen Eisschildes neu konfiguriert. Große Eisströme können sich innerhalb von wenigen tausend oder sogar mehreren hundert Jahren ‚abschalten‘ und in anderen Regionen ähnlich schnell neu entstehen. Dass sie sich in dieser Geschwindigkeit verändern, war bisher völlig unbekannt“, berichtet AWI-Glaziologe Dr. Steven Franke, der Erstautor der aktuellen Studie.

Der Eisabtransport durch Fließen im festen Zustand – nicht durch Abschmelzen – ist eine eisdynamische Komponente, die bei Prognosen über den Beitrag des grönländischen Eisschilds zum Anstieg des Meeresspiegels unter den diversen zukünftigen Klimaszenarien stärker in Betracht gezogen werden muss. Die aktuellen Eisschildmodelle können nur Prozesse einbeziehen, die auch gut verstanden sind. Bisher mangelt es jedoch an Beobachtungen zu der Unbeständigkeit von Eisströmen, die daher in den Modellen noch nicht erfasst ist. Die durch das Radar sichtbar gemachte Fließgeschichte des Eises liefert nun Hinweise zur zeitlichen und räumlichen Entwicklung dieser Dynamik.

Die jetzt veröffentlichten Daten stammen von Flugkampagnen mit dem AWI-Forschungsflugzeug Polar 6 sowie der NASA Operation IceBridge aus dem zentralen nordöstlichen Grönland, wo heutzutage nur sehr niedrige Fließgeschwindigkeiten des Eises zu beobachten sind. Das Forschungsteam entdeckte gleich zwei Paleo-Eisströme, die in der Vergangenheit aktiv waren und aktuell unter mehreren hundert Metern Eis verborgen liegen. Die Analysen zeigen, dass diese Eisströme bis in das Holozän (jünger als 11.700 Jahre) aktiv waren und weit in das zentrale nordost-grönländische Inlandeis hineinreichten.

„Die Radarsignaturen eines der beiden Paleo-Eisströme, mit deren Hilfe wir die vergangene Eisstromaktivität rekonstruieren konnten, ist der des riesigen, heutzutage aktiven North East Greenland Ice Stream (NEGIS) verblüffend ähnlich“, sagt AWI-Glaziologin Dr. Daniela Jansen, Leiterin des Projektes zu vergangenen Eisströmen, aus dem die Publikation hervorgegangen ist. Diese Entdeckung ließe möglicherweise Rückschlüsse auf das zukünftige Verhalten des NEGIS zu, über dessen Entstehung und Stabilität es große Debatten gibt. Die jetzt publizierten konkreten Beobachtungen ermöglichen es den Forschenden, die Mechanismen detaillierter zu verstehen, die Eisströme erzeugen und beeinflussen. So können sie zukünftig besser in Modellen abgebildet werden, die vorhersagen wie die Eisschilde der Erde auf die globale Erwärmung reagieren.

Originalpublikation:
Steven Franke, Paul D. Bons, Julien Westhoff, Ilka Weikusat, Tobias Binder, Kyra Streng, Daniel Steinhage, Veit Helm, Olaf Eisen, John D. Paden, Graeme Eagles, Daniela Jansen: Holocene ice-stream shutdown and drainage basin reconfiguration in northeast Greenland; Nature Geoscience (2022). DOI: 10.1038/s41561-022-01082-2

Hinweise für Redaktionen

Druckbare Bilder finden Sie in der Online-Version dieser Pressemitteilung: https://www.awi.de/ueber-uns/service/presse.html

Ihre Kontaktpersonen sind

Wissenschaft:
Dr. Steven Franke
steven.franke(at)awi.de
0471 4831-2408

Dr. Daniela Jansen
Daniela.Jansen(at)awi.de
0471 4831-1347

Prof. Paul Bons
paul.bons(at)uni-tuebingen.de
07071 2976469

Ansprechpartnerin in der AWI-Pressestelle:
Sarah Werner
sarah.werner(at)awi.de
0471 4831-2008

Das Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) forscht in der Arktis, Antarktis und den Ozeanen der gemäßigten sowie hohen Breiten. Es koordiniert die Polarforschung in Deutschland und stellt wichtige Infrastruktur wie den Forschungseisbrecher Polarstern und Stationen in der Arktis und Antarktis für die internationale Wissenschaft zur Verfügung. Das Alfred-Wegener-Institut ist eines der 18 Forschungszentren der Helmholtz-Gemeinschaft, der größten Wissenschaftsorganisation Deutschlands.

http://www.awi.de/

Media Contact

Sebastian Grote Kommunikation und Medien
Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung

Alle Nachrichten aus der Kategorie: Geowissenschaften

Die Geowissenschaften befassen sich grundlegend mit der Erde und spielen eine tragende Rolle für die Energieversorgung wie die allg. Rohstoffversorgung.

Zu den Geowissenschaften gesellen sich Fächer wie Geologie, Geographie, Geoinformatik, Paläontologie, Mineralogie, Petrographie, Kristallographie, Geophysik, Geodäsie, Glaziologie, Kartographie, Photogrammetrie, Meteorologie und Seismologie, Frühwarnsysteme, Erdbebenforschung und Polarforschung.

Zurück zur Startseite

Kommentare (0)

Schreiben Sie einen Kommentar

Neueste Beiträge

Lange angestrebte Messung des exotischen Betazerfalls in Thallium

… hilft bei Zeitskalenbestimmung der Sonnenentstehung. Wie lange hat eigentlich die Bildung unserer Sonne in ihrer stellaren Kinderstube gedauert? Eine internationale Kollaboration von Wissenschaftler*innen ist einer Antwort nun nähergekommen. Ihnen…

Soft Robotics: Keramik mit Feingefühl

Roboter, die Berührungen spüren und Temperaturunterschiede wahrnehmen? Ein unerwartetes Material macht das möglich. Im Empa-Labor für Hochleistungskeramik entwickeln Forschende weiche und intelligente Sensormaterialien auf der Basis von Keramik-Partikeln. Beim Wort…

Klimawandel bedroht wichtige Planktongruppen im Meer

Erwärmung und Versauerung der Ozeane stören die marinen Ökosysteme. Planktische Foraminiferen sind winzige Meeresorganismen und von zentraler Bedeutung für den Kohlenstoffkreislauf der Ozeane. Eine aktuelle Studie des Forschungszentrums CEREGE in…