Merkmale des Untergrunds unter dem Thwaites-Gletscher enthüllt
Ein Forschungsteam hat felsige Berge und glattes Terrain unter dem Thwaites-Gletscher in der Westantarktis entdeckt – dem breiteste Gletscher der Erde, der halb so groß wie Deutschland und über 1000 Meter mächtig ist. Das Team nutzte seismische Verfahren, um zum ersten Mal das Bett unter diesem abgelegenen Gletscher zu vermessen. Damit können sie neue Einblicke in die Zukunft des riesigen Gletschers gewinnen. Sie stellen ihre Ergebnisse diese Woche auf der Tagung der Europäischen Geowissenschaftlichen Union (EGU) in Wien vor.
Form und Eigenschaften des Untergrunds des antarktischen Thwaites-Gletschers beeinflussen, wie schnell sich der Gletscher zurückziehen und zum Anstieg des Meeresspiegels beitragen wird. Daher untersucht die „International Thwaites Glacier Collaboration“ (ITGC) diesen sich schnell verändernden Gletscher, dessen Eisverlust den globalen Meeresspiegel erheblich beeinflussen könnte. Er ist bereits für etwa vier Prozent des globalen Meeresspiegelanstiegs verantwortlich – ein Betrag, der sich seit Mitte der 1990er Jahre mehr als verdoppelt hat. Die ITGC wird von Großbritannien und den USA geleitet, das Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) bringt als assoziierter Partner seine besonderen Technologien und seine Expertise ein.
Der Gletscher ist extrem abgelegen: Die Forschungsgebiete auf dem Gletscher sind mehr als 1.600 Kilometer von der Rothera Station des British Antarctic Survey (BAS) und der McMurdo Station des US Antarctic Program (USAP) entfernt. Um die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie das unterstützende Personal zu den Feldstandorten zu bringen, müssen Menschen und Ausrüstung über mehrere Camps als Aufenthaltsorte und Überland-Traversen des BAS, von speziellen Raupenfahrzeugen gezogen, und transportiert werden. Außerdem kommen verschiedene Flugzeugtypen zum Einsatz, um die Teams auf den Gletscher zu bringen.
Während zweier Feldkampagnen, 2022-23 und 2023-24, führte das AWI-Forschungsteam die erste großflächige seismische Erkundung eines Eisstroms überhaupt durch. Sie sammelten Hunderte von Kilometern seismischer Daten, die die Eigenschaften des Untergrunds sowohl entlang als auch quer zum Fließen durch das Gletscherbett unter dem Thwaites zeigen. Dafür stellten sie eine seismische Vibrationsquelle auf, eine Rüttelplatte, die auf die Schneeoberfläche gedrückt und in Bewegung versetzt wird. Dadurch werden seismische Wellen erzeugt, die 200 Meter tief in das Bett unter dem Gletscher eindringen können, nachdem sie bereits zwei Kilometer Eis durchquert haben. 480 Geophone an einem 1,5 Kilometer langen Kabel zeichnen die Wellen auf, die im und unter dem Eis reflektiert werden. Das Fahrzeug war über 350 Kilometer im Einsatz und sammelte dabei kontinuierlich Daten.
Diese erstmalige genaue Messung des Untergrundes unter dem 800 bis 1.200 Meter dicken Thwaites Gletscher zeigt eine abwechslungsreiche Landschaft: Relativ flache und glatte Regionen von einigen Kilometern Länge, in denen weiche Sedimente vorherrschen, wechseln sich ab mit Regionen mit ausgeprägterer Topographie, in denen Unebenheiten von Dutzenden bis Hunderten von Metern Höhe und hartes Grundgestein das Fließen des Eises behindern. Außerdem fand das Team mehr als 100 Meter tiefe Seen.
Die seismischen Aufnahmen enthüllten in einigen Gebieten auch Muster innerhalb des Eises über dem Untergrund. Diese sogenannten englazialen Reflexionen wurden vor allem in Bereichen beobachtet, in denen der Untergrund rauer ist. Dies deutet darauf hin, dass sich das Eis über diesen rauen Teilen des Gesteins verformt und sich die Eiskristalle an den herrschenden Spannungen ausrichten. Das bedeutet, dass das Eis in einer Richtung viel weicher, in der anderen aber viel härter ist. Dies müssen Eisfließmodelle berücksichtigen, um das dynamische Verhalten des Gletschers genau darzustellen, berichten die Forschenden jetzt auf der EGU.
Neben diesen seismischen Aufnahmen sammelte ein US-Team auch hochauflösende Radardaten, die eine Karte des Untergrunds unter dem Eis liefern, vergleichbar mit Satellitenbildern der Erdoberfläche. Durch die Kombination beider Datensätze waren die Forschenden in der Lage, die dreidimensionale Ausdehnung einiger geomorphologischer Merkmale des Gletscherbetts zu definieren, die das Fließen des Gletschers beeinflussen, wie beispielweise mit Sedimenten gefüllte Becken und Tröge.
Diese bisher unbekannten Eigenschaften des Gletscherbetts sind eine der wichtigsten Eingaben für Eisfließmodelle, die den zukünftigen Verlust des Eisschilds vorhersagen sollen. Zurzeit versuchen die Modelle, die Eigenschaften des Gletscherbetts anhand von Satellitenbildern abzuschätzen, um die Oberflächengeschwindigkeit des Gletschers zu berechnen. Mit den neuen Erkenntnissen werden die Modelle in der Lage sein, genauere Ergebnisse für die Art und Weise zu liefern, wie das Eis über die rauen und flachen, harten und weichen Abschnitte des Bettes fließt. Das verbessert das Verständnis dafür, wie der Thwaites-Gletscher auf einen wärmeren Ozean und ein schnelleres Abschmelzen an seiner Vorderseite reagieren wird.
Prof. Dr. Olaf Eisen, Glaziologe am Alfred-Wegener-Institut, der die AWI-Kampagne leitete, sagt: „Das ist das erste Mal, dass wir ein so klares Bild von einem so großen Teil des Untergrundes bekommen. Dies hat große Auswirkungen auf die Modellierung der Eisflussdynamik und auf das Verständnis, wie viel der Thwaites-Gletscher zum Anstieg des Meeresspiegels beitragen könnte, was sich auf die Küstengemeinden auf der ganzen Welt auswirken wird, insbesondere in der nördlichen Hemisphäre.“
Warmes Ozeanwasser aus der Amundsen-See, in die der Thwaites-Gletscher mündet, zirkuliert unter dem schwimmenden Rand des Gletschers und lässt ihn von unten schmelzen. Durch dieses Schmelzen löst sich das Eis vom darunter liegenden Untergrund, es schwimmt auf, wodurch es schneller abfließt. Das Verständnis der Form und Merkmale des Meeresbodens, der unter dem Thwaites liegt, ist daher wichtig. Sie beeinflussen, wie schnell sich der Gletscher zurückzieht und zum Anstieg des Meeresspiegels beiträgt.
Dr. Robert Larter, Geophysiker beim British Antarctic Survey und Leiter der ITGC in Großbritannien, sagt: „Die Kenntnis der Eigenschaften des Bettes, über das der Thwaites-Gletscher fließt, war die wichtigste Information, die fehlte, um die Vorhersage zu verbessern, wie schnell er in Zukunft Eis verlieren wird. Die neuen Ergebnisse beginnen, diese Lücke zu schließen. Ein Vergleich der jüngsten Vermessungsdaten des Meeresbodens mit Radarprofilen unter dem Gletscher zeigte Ähnlichkeiten zwischen dem Bett, von dem sich der Thwaites-Gletscher bereits zurückgezogen hat, und dem verbleibenden Bett. Neue seismische Daten, die vor der Küste gesammelt wurden, bestätigen starke Ähnlichkeiten. Aber die Daten aus dem Bett unter dem Gletscher selbst sind die wichtigsten Informationen, die von numerischen Eisschildmodellen benötigt werden, die den zukünftigen Eisverlust vorhersagen.“
Diese Forschung ist Teil des GHOST-Projekts der International Thwaites Glacier Collaboration, das seismische und Radardaten verwendet, um die Eigenschaften des Eises und des Untergrunds des Thwaites-Gletschers zu untersuchen.
Der Originaltext stammt vom British Antarctic Survey
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The British Antarctic Survey strives to uncover the secrets of the Polar Regions and the frozen regions of the Earth. Our expertise spans the depths of the oceans to the inner edge of space.
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