Neues Verfahren ermittelt neotektonische Aktivität an verdeckten Verwerfungen

1. Disaggregationsbänder können in natürlichen Aufschlüssen oder künstlichen Gruben leicht erkannt werden.
Christian Brandes, LIAG

Bedeutung für Erdbebengefährdungskarten.

Forschende des Leibniz-Instituts für Angewandte Geophysik (LIAG) und der Leibniz Universität Hannover (LUH) haben ein Verfahren entwickelt, mit dem sie den Zusammenhang zwischen kleinen Deformationsstrukturen an der Oberfläche und der neotektonischen Aktivität verdeckter Verwerfungen im Untergrund nachweisen können. Selbst aseismische Kriechaktivitäten werden so ermittelt. Verdeckte Verwerfungen haben ein hohes seismisches Gefährdungspotenzial. Der Ansatz deckt den großen Bedarf an einem robusten geologischen Indikator und soll die Ausweisung in bestehenden Gefährdungskarten unterstützen. Das Journal Communications Earth & Environment aus dem Nature-Portfolio veröffentlichte die Studie.

2. Scherapparat zur Simulation der Entstehung von Disaggregationsbändern.
Anne-Marie Pogoda-Dorsch, LIAG

In ihrer Studie untersuchten die Forschenden sogenannte Disaggregationsbänder, also zentimeterdicke Zonen deformierter Sedimente, in Aufschlüssen oberhalb von bekannten Verwerfungen in Deutschland und Dänemark. Diese Bänder entstehen ähnlich wie Verwerfungen im festen Untergrund, allerdings in oberflächennahen, sandigen Lockersedimenten und sind damit vergleichsweise leicht zugänglich. Die Forschenden stellten fest, dass diese Disaggregationsbänder im direkten Zusammenhang mit neotektonischer Aktivität an Verwerfungen im Untergrund stehen können. Dies ist ein wichtiger Schritt für die neotektonische Gefährdungsanalyse. Zudem gab es bislang noch keine robusten Indikatoren, um Kriechbewegungen, die beispielsweise vor einigen tausend Jahren stattgefunden haben, nachzuweisen. Kriechende Verwerfungen stellen eine besondere Herausforderung dar, da sie trotz ihrer aktuellen aseismischen Phase in der Zukunft durchaus wieder Erdbeben erzeugen können.

„Verdeckte Verwerfungen können besonders große Folgen haben, da sie oft unbekannt sind und Erdbeben überraschend auftreten“, erklärt Dr. Christian Brandes, Geologe an der LUH. „Es gibt noch viele verdeckte Verwerfungen, deren Position und Aktivität bisher nicht genau bestimmt werden konnte – denn das Erfassen speziell von kriechenden Verwerfungen war bis jetzt nur mit Hilfe von dauerhaften Beobachtungen an der Oberfläche möglich.“

Dr. David Colin Tanner, Geologe am LIAG, ergänzt: „Oft wird nur dort gezielt beobachtet, wo Erdbeben bereits aufgetreten sind. Es gibt aber beispielsweise in Norddeutschland auch Spannungen im Untergrund, die durch das Abschmelzen der Gletscher am Ende der letzten Eiszeit verursacht wurden und zu einer noch andauernden, aber oft unterschätzten Aktivitätsphase von Verwerfungen geführt haben. Zukünftige Analysen zum Gefahrenpotenzial bekannter Störungen müssten die neuen Erkenntnisse berücksichtigen.“

Nachweis mit Sandbox-Simulation und Computertomographie

Mit Hilfe eines Scherapparats simulierten die Forschenden die Entstehung der Disaggregationsbänder und konnten die Erkenntnisse auf die Aktivität von verdeckten Verwerfungen im Untergrund übertragen. Zudem wurden die Disaggregationsbänder auf kleinster Skala im LIAG-Labor analysiert. Mithilfe von Computertomographie hat die Geophysik zudem im Rahmen der Grundlagenforschung wichtige Erkenntnisse hinsichtlich ihrer Porositätsverteilung geliefert. Diese Grundlagenforschung ist auch unter anderen Gesichtspunkten wichtig: Vergleichbare Bänder können im Festgestein einen Einfluss auf das Förderpotenzial von geothermischer Energie oder von Gas- und Öllagerstätten haben.

Ihr neues Verfahren werden die Forschenden zukünftig in Kombination mit weiteren geologischen und geophysikalischen Methoden zur gesamtheitlichen Erfassung von Störungsaktivitäten verfeinern. So zum Beispiel in einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt an einer aktiven Verwerfung in Neuseeland. Seit über zehn Jahren versuchen die Kooperationspartner Forschungsverfahren und -methoden zu verbessern und damit Prognosen für das Gefährdungspotenzial zu schaffen.

Publikation: Brandes, C. & Tanner, D.C. (2022): „Disaggregation bands as an indicator for slow creep activity on blind faults”. Journal Communications Earth & Environment, Nature-Portfolio. DOI: 10.1038/s43247-022-00423-8. https://www.nature.com/articles/s43247-022-00423-8

Über das LIAG
Das LIAG ist eine eigenständige, außeruniversitäre Forschungseinrichtung mit Sitz in Hannover. Mit Methoden der Angewandten Geophysik werden zukunftsgerichtete Fragestellungen von gesellschaftlicher Bedeutung untersucht. Der Schwerpunkt der Forschungsarbeiten liegt in der Erkundung des nutzbaren Untergrundes sowie in der Entwicklung von Mess- und Auswerteverfahren. Das Institut blickt auf über 50 Jahre Erfahrung in der Geophysik-Forschung zurück. Durch die langjährige Spezialisierung in der oberflächennahen Anwendung der Geophysik, der Geräte- sowie Dateninfrastruktur sowie der damit einhergehenden Möglichkeit, innerhalb eines Instituts verschiedenste geophysikalische Methoden themenübergreifend zu kombinieren, ist das LIAG deutschlandweit einzigartig.

Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Dr. Christian Brandes (LUH)
0511 762 4391
brandesgeowi.uni-hannover.de

Dr. David Colin Tanner (LIAG)
0511 643 2908
DavidColin.Tanner@leibniz-liag.de

Weitere Informationen:

http://www.leibniz-liag.de

Media Contact

Greta Clasen Öffentlichkeitsarbeit
Leibniz-Institut für Angewandte Geophysik (LIAG)

Alle Nachrichten aus der Kategorie: Geowissenschaften

Die Geowissenschaften befassen sich grundlegend mit der Erde und spielen eine tragende Rolle für die Energieversorgung wie die allg. Rohstoffversorgung.

Zu den Geowissenschaften gesellen sich Fächer wie Geologie, Geographie, Geoinformatik, Paläontologie, Mineralogie, Petrographie, Kristallographie, Geophysik, Geodäsie, Glaziologie, Kartographie, Photogrammetrie, Meteorologie und Seismologie, Frühwarnsysteme, Erdbebenforschung und Polarforschung.

Zurück zur Startseite

Kommentare (0)

Schreiben Sie einen Kommentar

Neueste Beiträge

Größte bisher bekannte magnetische Anisotropie eines Moleküls gemessen

An der Berliner Synchrotronstrahlungsquelle BESSY II ist es gelungen, die größte magnetische Anisotropie eines einzelnen Moleküls zu bestimmen, die jemals experimentell gemessen wurde. Je größer diese Anisotropie ist, desto besser…

Tsunami-Frühwarnsystem im Indischen Ozean

20 Jahre nach der Tsunami-Katastrophe… Dank des unter Federführung des GFZ von 2005 bis 2008 entwickelten Frühwarnsystems GITEWS ist heute nicht nur der Indische Ozean besser auf solche Naturgefahren vorbereitet….

Resistente Bakterien in der Ostsee

Greifswalder Publikation in npj Clean Water. Ein Forschungsteam des Helmholtz-Instituts für One Health (HIOH) hat die Verbreitung und Eigenschaften von antibiotikaresistenten Bakterien in der Ostsee untersucht. Die Ergebnisse ihrer Arbeit…