Oasen des Lebens in der eisbedeckten zentralen Arktis
Unter dem Eis der Arktis verbergen sich unbekannte Lebensräume und eine unerwartete Vielfalt von Lebewesen. Am 23. Oktober werden 46 Wissenschaftler von einer Expedition mit dem Forschungsschiff Polarstern aus der Arktis im Heimathafen Bremerhaven zurückerwartet. Sie hatten in den letzten sechs Wochen mit neuen Robotern und Kamerasystemen das Leben in Eis, Ozean und am Meeresboden untersucht.
Der eisbedeckte, zentrale Arktische Ozean jenseits 85° Nord ist für sein raues Klima, die geringe Produktivität und dünne Besiedlung durch Meerestiere bekannt. Wegen der schwierigen Eis- und Klimabedingungen hatten bisher nur wenige Wissenschaftler die Gelegenheit, diese Region umfassend zu erforschen. Die aktuelle Polarstern-Expedition PS101 hatte zum Ziel, untermeerische Seeberge und Tiefseegräben des zentralen Arktischen Ozeans zu erkunden und zu untersuchen wie sich Eis, Ozean und Leben durch den massiven Eisrückgang der letzten Jahre verändert haben.
Schon im Jahr 2001 bei einer deutsch-amerikanischen Expedition mit den Forschungseisbrechern Polarstern und Healy wurden viele Seeberge entlang des Gakkelrückens der zentralen Arktis vermessen, doch bisher fehlte es an Meerestechnik, um zu ihnen abzutauchen. Einer der größten Seeberge des Gakkelrückens ist der 2001 entdeckte Karasik Seeberg, der von 5000 m Wassertiefe auf 650 m aufsteigt. Seeberge gelten allgemein als Oasen des Lebens im Ozean, da sie Meerestieren eine Vielfalt von Habitaten und Nahrungsquellen bieten. Doch ob sie auch in der eisigen, nahrungsarmen Arktis reich besiedelt sind, war bisher unerforscht.
„Bei den ersten Bildern vom Gipfel des Karasik Seebergs trauten wir unseren Augen nicht: Er ist über und über mit riesigen kugeligen Schwämmen bewachsen. Zwischen den Schwämmen liegen zentimeterdicke Matten aus Nadeln und Wurmröhren. Wir haben verschiedene Fischarten beobachten können, die hier nicht zu erwarten waren, und einen Blick auf die nördlichsten bisher entdeckten Korallen erhascht. Es tummeln sich große weiße Seesterne, blaue Schnecken, rote Krebse und weiße und braune Muscheln zwischen den Schwämmen“, berichtet Expeditionsleiterin Prof. Dr. Antje Boetius vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) begeistert von den ersten Tauchgängen unter das Eis. Auch das im Wasser treibende Plankton, vor allem Krebse, Quallen und Würmer brachte die Forscher zum Staunen.
Der Tiefseeroboter NUI des amerikanischen Meeresforschungsinstitutes WHOI, ein Prototyp für die Erkundung von eisbedeckten Ozeanwelten, filmte das bisher unbekannte Tiefseeleben unter dem Eis und sammelte gezielt Proben für die Artbestimmung. Er tauchte wiederholt zu den Schwammgärten des Karasik Seeberges. Die Riesenschwämme werden bis zu einem Meter groß, hunderte von Jahren alt und scheinen sich auf ihren Nadeln fortbewegen zu können. Sie sind wiederum Lebensraum für unzählige Tiere, die auf und in den Schwämmen ein Zuhause finden.
Einen besonders extremen Lebensraum unter dem Eis fanden die Forscher an heißen Quellen im Tal des Gakkelrückens. An einem noch unbenannten vulkanischen Seeberg stieß das Team auf gespenstische Strukturen von frisch erstarrtem Lavagestein, zwischen denen aus kleinen Schloten und Rissen heißes Wasser emporquoll – bei einer Umgebungstemperatur unter dem Gefrierpunkt. Sie beobachteten Fahnen von Wasserstoff und Methan über den heißen Quellen, die von besonderen Tiefseebakterien als Nahrungsquelle genutzt werden. Neben Krebsschwärmen, Seeanemonen und Bakterienmatten fanden sich auch Fische und viele Fischskelette an den heißen Quellen. Die Forscher vermuten daher, dass die hydrothermale Aktivität Energie in das Nahrungsnetz der Tiefsee einspeist.
Auch der Klimawandel spielt in der Region um den Karasik Seeberg eine wichtige Rolle. Der AWI-Eisphysiker Dr. Marcel Nicolaus fasst die Beobachtungen zusammen: „Das diesjährige dünne Eis in der Untersuchungsregion bestätigt den schon seit längerem beobachteten Trend. Während Polarstern in den neunziger Jahren im Untersuchungsgebiet noch zwei bis drei Meter dicke Eisschollen umfahren musste, waren es in 2001 bei der ersten Vermessung der Seeberge schon weniger als zwei Meter durchschnittliche Meereisdicke. Aktuell haben wir vorwiegend Dicken von unter einem Meter vorgefunden und kaum mehr große Schollen.“ Die Meereis-Forscher haben auf der Expedition eine Reihe von autonom driftenden Eisbojen ausgesetzt, um das Meereis und das Klima der Arktis zu überwachen und Vorhersagen für den Wandel der Arktis zu verbessern.
Die internationale Expedition hat von der Technikentwicklung an der Schnittstelle zwischen Tiefsee- und Raumfahrtforschung profitiert. Es haben Forscher und Ingenieure der Helmholtz-Allianz ROBEX (Robotic Exploration of Extreme Environments) mit NASA’s PSTAR Programm (Planetary Science and Technology Analog Research) zusammengearbeitet. Der Projektleiter Chris German (WHOI) stellt fest: „Die Erde ist nur einer von bis zu zehn planetaren Körpern unseres Sonnensystems auf denen eisbedeckte Ozeane vermutet werden. Aus der Expedition PS101 in die eisbedeckte Arktis konnten wir einiges über Technologien zur Erforschung anderer planetarer Ozeanwelten lernen.“
Die Polarstern verbringt die nächsten zweieinhalb Wochen zu routinemäßigen Wartungs- und Reparaturarbeiten in der Bremerhavener Lloyd-Werft. Das Forschungs- und Versorgungsschiff wird am 12. November 2016 zur Antarktissaison starten. Auf dem Transit nach Süden findet dann eine Ausbildungsfahrt für internationalen wissenschaftlichen Nachwuchs statt. Bis zum Frühjahr 2017 stehen ozeanographische und geowissenschaftliche Expeditionen sowie die Versorgung der Neumayer-Station III auf dem Programm.
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Das Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) forscht in der Arktis, Antarktis und den Ozeanen der gemäßigten sowie hohen Breiten. Es koordiniert die Polarforschung in Deutschland und stellt wichtige Infrastruktur wie den Forschungseisbrecher Polarstern und Stationen in der Arktis und Antarktis für die internationale Wissenschaft zur Verfügung. Das Alfred-Wegener-Institut ist eines der 18 Forschungszentren der Helmholtz-Gemeinschaft, der größten Wissenschaftsorganisation Deutschlands.
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