Pockennarben auf dem Seegrund

So stellen sich die Forschenden vor, wie "Crazy Crater" im Längsschnitt aussieht. ETH Zürich / aus: Reusch et al. 2015

Anna Reusch, Doktorandin am Institut für Geologie, war an diesem Morgen bass erstaunt: Bei einer Routine-Messfahrt mit ihrem Forschungsboot auf dem Neuenburgersee zeichnete sich auf dem Kontrollbildschirm plötzlich eine ungewöhnliche Kontur ab. Unter dem Boot, in über 100 Meter Tiefe, musste etwas vorhanden sein, das zuvor noch niemand gesehen hat.

Sofort informierte sie ihren Professor Michael Strasser: «Wir haben etwas gefunden, dass du dir unbedingt ansehen musst.»

Die erste rudimentäre Datenauswertung an Bord ergab, dass Reusch und ihre Kollegen auf eine wissenschaftliche Sensation gestossen waren: einen riesigen Krater von 160 Metern Durchmesser und 10 Meter Tiefe. «Dieser Tag wird mir in Erinnerung bleiben – so etwas hätte ich nie erwartet», erinnert sich Reusch. «Das zeigt, dass selbst im 21. Jahrhundert in der Schweiz spannende und aufregende Entdeckungen möglich sind!»

Auf der Suche nach Erdbebenspuren

Die ETH-Doktorandin machte die Entdeckung im Rahmen eines Projektes des Schweizerischen Nationalfonds namens «Dynamite». Ziel von Reuschs Teilprojektes ist es, die Sedimente in Seen des westlichen Schweizer Mittellandes auf Spuren vergangener Erdbeben zu untersuchen.

Sie sollte unter anderem durch die hochaufgelöste Vermessung des Seebodens des Neuenburgersees Hinweise dafür finden, dass dort tektonisch aktive Zonen grosse Erdbeben hervorbringen können, und das in geologisch jüngster, den letzten 12‘000 Jahren.

Die Entdeckung des riesigen Kraters und in der Folge weiterer solcher Strukturen stellte ihre Doktorarbeit allerdings fast komplett auf den Kopf. «Die Krater waren so interessant, dass wir dieses Phänomen unbedingt genauer untersuchen wollten», erklärt die Geologin.

Vier Krater im See

Insgesamt machte das Forschungsteam vier Krater auf dem Grund des Sees ausfindig. Alle liegen am Nordwestufer, in einer Tiefe von über 100 Metern. Die meisten befinden sich in der Verlängerung von bekannten tektonischen Bruchzonen. Die vier Krater beschreiben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nun in einer Publikation, die soeben in der Fachzeitschrift «Geophysical Research Letters» erschienen ist.

Die Krater haben einen Durchmesser von 80 bis 160 Metern und sind 5,5 bis 30 Meter tief. Dem Grössten haben die Wissenschaftlerinnen den Spitznamen «Crazy Crater» gegeben. Denn nicht nur die Ausmasse dieser Struktur sind ungewöhnlich, sondern auch dessen Form: Der Krater ist kreisrund. Vergleichbare Strukturen auf dem Meeresboden werden in der Regel durch die Strömung verformt.

Krater mit Schlammfüllung

Am Fuss des 10 Meter tiefen Crazy Craters machten die Forschenden einen Schlammdeckel aus. Darunter liegt ein 60 Meter tiefer Schlot, der mit einer dicken Suspension aus Wasser und Sediment gefüllt ist. Es war den Wissenschaftlern nicht möglich, daraus Bohrkerne zugewinnen. Dazu ist das Material zu flüssig, weil von unten aufsteigendes Wasser in den Schlot dringt. Es hält die Sedimente im Schlot in Bewegung und sorgte dafür, dass sie sich nicht wie normale Seesedimente verfestigen konnten.

Dass in diesen Kratern Wasser aufstösst und nicht etwa Gas, zeigten die Wissenschaftler unter anderem mit Messungen der Wasser-, Suspensions- und Sedimenttemperaturen sowie des Isotopen-Fingerabdrucks. Während die Suspension eine Temperatur von 8,4 Grad aufwies, waren das Tiefenwasser und das den Krater umgebende Sediment lediglich 5,8 Grad warm. Diese Temperatur entspricht der normalen Temperatur des Wassers in diesen Seetiefen. Die Temperatur der Suspension hingegen ist vergleichbar mit derjenigen des Oberflächenwassers im angrenzenden Karstgebiet.

Auch enthält die Suspension im Innern des Schlots einen geringeren Anteil des schweren Sauerstoff-Isotopes 18 als das umgebende Seewasser. «Diese unterschiedlichen Sauerstoffsignale deuten darauf hin, dass hier zwei verschiedene Wasserkörper vorliegen», sagt Reusch.

Gigantische Quelle

Für die Erdwissenschaftlerin ist es deshalb am wahrscheinlichsten, dass die Krater mit den Karstsystemen des angrenzenden Juras zusammenhängen. Wasser, das dort versickert, fliesst im Untergrund unter den Seegrund des Neuenburgersees und sucht sich den Weg des geringsten Widerstands an die Oberfläche. Dabei durchstösst das Wasser die meterdicken Sedimentschichten, die in Jahrtausenden auf dem Seeboden abgelagert wurden. «Mit anderen Worten handelt es sich bei den Kratern um Quellen», so Anna Reusch.

Anhand von Sedimentbohrkernen aus der unmittelbaren Umgebung der Krater konnten die Forscher darüber hinaus aufzeigen, dass die Suspension von Zeit zu Zeit über den Kraterrand schwappt, ähnlich einer Eruption eines Vulkanes. In den vergangenen 12‘000 Jahren passierte dies mindestens viermal. Crazy Crater hat allerdings seit über 1600 Jahren kein Sediment mehr ausgeworfen, welches sich am Kraterrand abgelagert hat, trotz des heute aktiven Wasserflusses. Was diese Eruptionen auslöst, ist noch unerforscht. Um die Dynamik der Krater zu erforschen, braucht es ein Langzeit-Monitoring, mit dem der Pegelstand der Suspension im Krater überwacht werden kann», sagt die Forscherin.

Entdeckerfieber ausgebrochen

Die bisher untersuchten Krater liegen alle in Tiefen von 100 Metern und mehr unter der Wasseroberfläche. Ob es im Flachwasser ebenfalls solche «Pockennarben» gibt, kann Reusch nicht sagen, da sie nur die tiefen Zonen des Neuenburgersees (ab 30 m Wassertiefe abwärts) mit ihrem Sonargerät abgesucht hat. Die Flachwasserzonen wurden bis anhin nicht kartiert.

Zur Vermessung der Seen verwendeten die Forscher ein modernes Fächer-Sonargerät, das eine hohe Auflösung ermöglicht. Bisher wurden solche Geräte vor allem dazu genutzt, den Meeresboden zu vermessen. Je nach Wassertiefe und Winkel des Fächers liegt die Auflösung bei bis zu 20×20 Zentimetern. Das Gerät wird derzeit gut ausgelastet: Der Grund der Schweizer Seen ist im Vergleich zur Geländeoberfläche an Land nach wie vor relativ schlecht erforscht. Erst seit wenigen Jahren vermessen wir den Seegrund von vielen Schweizer Seen mit hochauflösenden Methoden und entdecken so Phänomene, von denen wir bisher nicht wussten dass sie in den Tiefen der Schweizer Seen überhaupt existieren.

Literaturhinweis

Reusch A, Loher M, Bouffard D, Moernaut J, Hellmich F, Anselmetti FS, Bernasconi SM, Hilbe M, Kopf A, Lilley MD, Meinecke G, Strasser M: Giant lacustrine pockmarks with subaqueous groundwater discharge and subsurface sediment mobilization, Geophysical Research Letters, 13. Mai 2015. doi:10.1002/2015GL064179 [http://dx.doi.org/10.1002/2015GL064179]

https://www.ethz.ch/de/news-und-veranstaltungen/eth-news/news/2015/05/krater-im-…

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Peter Rüegg ETH Zürich

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