Schmelzwasser beeinflusst Ökosysteme im Arktischen Ozean
Süßwasser aus Meereis verzögert die biologische Kohlenstoffpumpe um vier Monate.
In den Sommermonaten driftet das Meereis der Arktis über die Framstraße in den Atlantik. Um das Drifteis herum bildet sich im Ozean durch das Schmelzwasser eine stabile Schicht auf dem salzigeren Meerwasser, die sich stark auf die biologischen Prozesse und Organismen auswirkt. Dies beeinflusst wiederum, wann Kohlenstoff aus der Atmosphäre aufgenommen und gespeichert wird. Das hat ein Forschungsteam unter Leitung des Alfred-Wegener-Instituts mithilfe des FRAM Ozeanbeobachtungssystems herausgefunden. Die Ergebnisse erscheinen jetzt in der Fachzeitschrift Nature Communications.
Ozeane gehören zu den größten Kohlenstoffsenken unseres Planeten. Dazu trägt auch die biologische Kohlenstoffpumpe bei: Dicht unter der Wasseroberfläche nehmen Mikroorganismen wie Algen oder Phytoplankton Kohlendioxid aus der Atmosphäre durch Fotosynthese auf. Sinken sie auf den Meeresboden, kann dieser den enthaltenen Kohlenstoff für mehrere tausend Jahre speichern. Dass Schmelzwasser aus Meereisschollen diese Prozesse um vier Monate verzögert, konnten nun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) feststellen.
Das FRAM (Frontiers in Arctic Marine Monitoring) Ozeanbeobachtungssystem konnte von Sommer 2016 bis zum Sommer 2018 kontinuierlich Daten in der Framstraße (zwischen Grönland und Spitzbergen) sammeln. An zwei Orten standen jeweils mehrere Verankerungen dicht beieinander, um so viele Aspekte der gekoppelten physikalischen-biologischen Prozesse im Wasser zu messen, wie möglich. Zum Einsatz kamen physikalische, biogeochemische und akustische Sensoren durch die gesamte Wassersäule und am Meeresboden sowie Geräte, die Wasser- und Sedimentproben für spätere Laboranalysen sammeln. „Wir waren zum ersten Mal in der Lage über zwei Jahre sowohl die jahreszeitlichen Entwicklungen von Mikroalgen und Phytoplankton vollständig zu beobachten, als auch das komplette physikalische, chemische und biologische System in dem diese Entwicklungen stattfinden“, sagt Dr. Wilken-Jon von Appen, Klimaforscher am AWI und Hauptautor der Studie.
In diesem Zeitraum erreichte der Meereisexport zwei Extreme: Im Sommer 2017 verließ ausgesprochen viel Eis die Arktis durch die Framstraße. Dadurch gab es viel salzarmes Schmelzwasser und eine starke Schichtung im Wasser. Ungewöhnlich wenig Eis verließ dagegen im Sommer 2018 die Arktis, es gab kaum Schmelzwasser und daher auch keine ausgeprägte salzbedingte Schichtung. Während der beiden Extreme liefen die Prozesse der biologischen Kohlenstoffpumpe so unterschiedlich ab, dass die Wissenschaftler von zwei verschiedenen Systemen sprechen: dem Schmelzwasser-System (Sommer 2017) und dem Mischschicht-System (Sommer 2018).
Schmelzwasser-System im Sommer 2017
Die ersten Blüten von Algen und Phytoplankton zeigten sich um den 15. Mai, als die Atmosphäre begann, den Ozean zu erwärmen. Im Sommer 2017 driftete viel Eis durch die Framstraße, es gab also viel Schmelzwasser. „Das deutlich weniger salzige Wasser schichtete sich auf Salzwasser, ohne sich zu vermischen“, sagt Wilken-Jon von Appen. „Dabei war die Schichtung zwischen 0 und 30 Metern zehnmal stärker als zwischen 30 und 55 Metern.“ Dadurch fanden kaum Nährstoffe aus den tieferen Schichten ihren Weg nach oben und andersrum konnte kaum Kohlenstoff nach unten gelangen. Das Wachstum von Phytoplankton, was der erste Schritt der biologischen Kohlenstoffpumpe ist, fand fast ausschließlich in den oberen 30 Metern statt. Erst Mitte August brach die starke Schichtung zusammen, als die Atmosphäre die Wasseroberfläche nicht mehr erwärmte. Der größte Teil der Biomasse sank aus der oberen Schicht zwischen September und November ab, war älter als drei Monate und zu nährstoffarm, um Lebewesen am Meeresboden anzulocken. Im Schmelzwasser-System konnten die Mikroorganismen während der Blüte bis zu 25 Gramm Kohlenstoff pro Quadratmeter binden.
Mischschicht-System im Sommer 2018
Der Frühling/Sommer 2018 zeichnete dagegen ein anderes Bild: Er war relativ eisfrei, dadurch gab es weniger Schmelzwasser und keine so starke Schichtung im Meerwasser. Bis etwa 50 Metern Tiefe bildete sich eine Mischschicht. Ab dem 1. Mai gab es die ersten Blüten von Kieselalgen und parallel stieg auch die Anzahl des Zooplanktons und der Fische, die sich bevorzugt davon ernähren. Durch ihre Ausscheidungen gelangte organischer Kohlenstoff schon innerhalb von zwei bis drei Wochen nach Beginn der Blüte in Tiefen bis zu 1200 Metern. Vier bis sieben Wochen nach Beginn der Blüte – fast vier Monate früher als im Sommer 2017 – erreichte die Biomasse den Meeresboden. Das Material, das den Meeresboden erreichte, war reich an Nährstoffen und lockte fünfmal mehr Bodenlebewesen und Fische an, als im Sommer mit Schmelzwasser. Während der Blüte haben die Algen um die 50 Gramm Kohlenstoff pro Quadratmeter gebunden, doppelt so viel wie im Schmelzwasser-System.
Trotz all dieser Unterschiede im System war die biologische Kohlenstoffpumpe im Sommer 2018 nicht unbedingt produktiver: „Wir stellten fest, dass im Sommer 2017 der größte Teil organischen Kohlenstoffs erst nach September den Meeresboden erreichte“, sagt Wilken-Jon von Appen. „Betrachtet man den Zeitraum zwischen Anfang Mai und Ende November, war der Kohlestoff-Export im Mischschicht-System nur etwa ein Drittel größer als im Schmelzwasser-System.“ Vielmehr begünstigt die starke Schichtung 2017 ein längerfristiges Wachstum über mehrere Monate hinweg, da Kohlenstoff und Nährstoffe in den oberen Schichten zurückgehalten werden. Dagegen führt die eisfreie Situation 2018 zu einer kurzen, intensiven Blüte und einem schnellen Export, der Nahrung und Kohlenstoff für Tiefsee-Ökosysteme am Meeresboden liefert. Letztere würden also besonders von den sommerlichen Bedingungen im Mischschicht-System profitieren. Denn im Schmelzwasser-System hemmt die starke Schichtung die Nährstoffzufuhr im Sommer und die tiefe Wasserdurchmischung im Winter.
„In Zukunft könnte sich das Mischschicht-System über größere Bereiche der Arktis ausbreiten“, erklärt Wilken-Jon von Appen. „Die Bedingungen in diesem System ähneln denen aus niederen Breitengraden und das arktische Meer könnte sich zunehmend wie Ozeane aus südlichen Gefilden verhalten.“
Über FRAM
In den Polargebieten sind wissenschaftliche Beobachtungen und Datenerhebungen besonders herausfordernd: extrem niedrige Temperaturen, starke Stürme und dauernde Dunkelheit im Winter erschweren den Einsatz von Mess-Technologien. Das Arktis-Observatorium FRAM (FRontiers in Arctic Marine Monitoring https://www.awi.de/expedition/observatorien/ozean-fram.html) kann das: Die modularen Messplattformen sind mit modernsten Sensoren ausgestattet, die ganzjährig auf und unter dem Eis, in der eisbedeckten Wassersäule und am Meeresboden eingesetzt werden können. Dadurch können sie die Geschwindigkeit, Ökonomie und Nachhaltigkeit von Messungen verbessern. „FRAM ist eine einzigartige Ozean-Infrastruktur, die von nationalen und internationalen Forschungsprojekten genutzt wird, um polare Ökosysteme und ihren Einfluss auf das globale Klimasystem besser zu beschreiben und zu verstehen“, sagt Prof. Antje Boetius, Direktorin des AWI. „Der fortschreitende Klimawandel beeinflusst auch den Arktischen Ozean. Diese Veränderungen in allen Facetten zu beobachten und die Ursachen und Wirkungen bis hinab in die Tiefsee zu verstehen, ist eines unserer großen Ziele.“ Die FRAM Infrastruktur ist durch die Helmholtz-Gemeinschaft gefördert und wird vom AWI betrieben.
Originalpublikation: Wilken-Jon von Appen, Anya M. Waite, Melanie Bergmann, Christina Bienhold, Olaf Boebel, Astrid Bracher, Boris Cisewski, Jonas Hagemann, Mario Hoppema, Morten H. Iversen, Christian Konrad, Thomas Krumpen, Normen Lochthofen, Katja Metfies, Barbara Niehoff, Eva-Maria Nöthig, Autun Purser, Ian Salter, Matthias Schaber, Daniel Scholz, Thomas Soltwedel, Sinhue Torres-Valdes, Claudia Wekerle, Frank Wenzhöfer, Matthias Wietz, Antje Boetius: Sea-ice derived meltwater stratification slows the biological carbon pump: results from continuous observations (2021).
DOI: 10.1038/s41467-021-26943-z
Ihr wissenschaftlicher Ansprechpartner ist Dr. Wilken-Jon von Appen, Tel. +49(471)4831-2903 (E-Mail: wilken-jon.von.appen(at)awi.de).
Ihre Ansprechpartnerin in der AWI-Pressestelle ist Sarah Werner, Tel. +49(471)4831-2008
(E-Mail: sarah.werner(at)awi.de).
Das Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) forscht in der Arktis, Antarktis und den Ozeanen der gemäßigten sowie hohen Breiten. Es koordiniert die Polarforschung in Deutschland und stellt wichtige Infrastruktur wie den Forschungseisbrecher Polarstern und Stationen in der Arktis und Antarktis für die internationale Wissenschaft zur Verfügung. Das Alfred-Wegener-Institut ist eines der 18 Forschungszentren der Helmholtz-Gemeinschaft, der größten Wissenschaftsorganisation Deutschlands.
Originalpublikation:
Media Contact
Alle Nachrichten aus der Kategorie: Geowissenschaften
Die Geowissenschaften befassen sich grundlegend mit der Erde und spielen eine tragende Rolle für die Energieversorgung wie die allg. Rohstoffversorgung.
Zu den Geowissenschaften gesellen sich Fächer wie Geologie, Geographie, Geoinformatik, Paläontologie, Mineralogie, Petrographie, Kristallographie, Geophysik, Geodäsie, Glaziologie, Kartographie, Photogrammetrie, Meteorologie und Seismologie, Frühwarnsysteme, Erdbebenforschung und Polarforschung.
Neueste Beiträge
Wegweisend für die Diagnostik
Forschende der Universität Jena entwickeln Biosensor auf Graphen-Basis. Zweidimensionale Materialien wie Graphen sind nicht nur ultradünn, sondern auch äußerst empfindlich. Forschende versuchen deshalb seit Jahren, hochsensible Biosensoren zu entwickeln, die…
Rotorblätter wiederverwenden
h_da-Team als „Kultur- und Kreativpilot*innen Deutschland“ ausgezeichnet. Rotorblätter von Windkraftanlagen wiederverwenden statt zu entsorgen: Das „Creative Lab rethink*rotor“ am Fachbereich Architektur der Hochschule Darmstadt (h_da) zeigt, dass sich hieraus Schallschutzwände…
Weltweit erstes Zentrum für Solarbatterien
Strategische Partnerschaft zur Optoionik von TUM und Max-Planck-Gesellschaft. Energie von Sonnenlicht direkt elektrochemisch speichern Optoionik als Querschnittswissenschaft zwischen Optoelektronik und Festkörperionik Bayern als internationaler als Innovationsführer bei solarer Energiespeicherung Das…