Weltweit einmalige Erdbebenmessstation in Betrieb genommen
Eine neue so genannte Multiparamenter-Bohrloch-Messstation des Deutschen GeoForschungsZentrums GFZ am Marmarameer registriert sämtliche Deformationsprozesse über langsames Kriechen von Erdplatten bis hin zu klassischen Erdbeben sowie Porenfluiddruckdaten.
Nach mehrwöchigen Bohrarbeiten, erfolgreicher Installation und abgeschlossener Testphase hat das Deutsche GeoForschungsZentrum (GFZ) jüngst eine weltweit einmalige Messtation auf der Kapidag-Halbinsel im Nordwesten der Türkei in Betrieb genommen. Die so genannte Multiparamenter-Bohrloch-Messstation befindet sich am Marmarameer rund hundert Kilometer Luftlinie von Istanbul entfernt. Sie registriert sämtliche Deformationsprozesse über langsames Kriechen von Erdplatten bis hin zu klassischen Erdbeben. Darüber hinaus zeichnet sie auch Porenfluiddruckdaten auf. Ziel ist es, die Bewegungen der Eurasischen und der Anatolischen Kontinentalplatten unterhalb des Marmarameeres mit modernster Messtechnik und bisher nicht erreichter Genauigkeit zu überwachen.
Bohrloch-Breitband-Seismometer vor dem Einbau in die GONAF-Bohrung auf Kapidag. Dieses neu entwickelte Gerät kann Erdbeben über eine extrem große Signalbreite von 200 Hz bis 150 Sekunden Periodendauer registrieren. (c) GFZ
Gemeinsam mit dem türkischen Katastrophenschutz AFAD betreibt das GFZ seit vielen Jahren das bohrlochgestützte Observatorium GONAF (Geophysical Observatory at the North Anatolian Fault) in der Istanbul-Marmararegion (www.gonaf-network.org). Dort, in unmittelbarer Nähe zur Metropolregion Istanbul mit mehr als 16 Millionen Einwohnern, erwarten Forschende ein starkes Erdbeben mit einer Magnitude größer als 7. „Statistisch gesehen ist so ein Megabeben überfällig“, sagt Prof. Marco Bohnhoff, der Leiter von GONAF. „Das Problem ist, dass wir nicht wissen, wann es kommt – morgen, in den nächsten Monaten oder erst in 20, 30 Jahren.“ Die hohe Gefährdung betrifft eine Region von enormer Bedeutung, nicht nur der Millionen Menschen wegen: Die Unternehmen und Arbeitsplätze in und um Istanbul machen etwa 40 Prozent der türkischen Wirtschaftskraft aus.
Das seit 2015 bestehende GONAF-Observatorium hat dort bereits eine Reihe von Schlüssel-Beobachtungen geliefert. So gelang es, die „Erdbeben-Lücke“ entlang der eurasisch-anatolischen tektonischen Plattengrenze systematisch zu unterteilen. Von einer Lücke sprechen Seismolog:innen, wenn ein Bereich einer aktiven Plattengrenze oder geologischen Störung während des tektonischen Ladeprozesses über Jahrzehnte Energie sammelt und dabei ruhig bleibt. Je länger dieser Prozess dauert, desto mehr Energie wird aufgestaut, die sich dann auf einen Schlag entladen kann. Im Fall der nordanatolischen Störung gibt es so eine -aktuell überfällige- Lücke unterhalb des Marmarameeres. Mit Hilfe von GONAF-Messungen konnte diese Lücke dezidiert entschlüsselt werden: Der östlicher Teil dieser Lücke unmittelbar südlich von Istanbul ist komplett verhakt. Dem gegenüber gleiten beide Erdplatten weiter westlich fast still und leise aneinander vorbei (siehe auch unsere Mitteilung aus dem August 2023). Marco Bohnhoff sagt: „Die angestaute tektonische Energie ist damit unter dem östlichen Marmarameer maximal. Das hat entsprechende Auswirkungen auf die Berechnung der Szenarien im Fall des überfälligen Starkbebens und dessen Folgen auf das Stadtgebiet Istanbuls.“
Das GONAF-Observatorium hatte sich bisher mit insgesamt sieben Standorten auf die östliche Marmararegion konzentriert. Die „seismische Lücke“, entlang derer sich das nächste Starkbeben mit hoher Wahrscheinlichkeit ereignen wird, erstreckt sich allerdings über das gesamte Marmarameer von Ost nach West zwischen den letzten beiden Megabeben der Region, dem Izmit-Erdbeben 1999 und dem Ganos-Erdbeben 1912. Istanbul liegt genau dazwischen.
Um die gesamte kontinentale Plattengrenze unterhalb des Marmarameeres mit optimierter Messgenauigkeit zu überwachen, wurde eine Erweiterung Richtung Westen beschlossen. Deren Umsetzung hat mit der neuen Station auf der Halbinsel Kapidag begonnen. Dort sind nun in einer einzigen 120 m tiefen Bohrung neueste Breitband-Seismometer-Sensoren (mit einer Bandbreite von 200Hz bis 150sec Signalfrequenz), Deformationsmessgeräte mit einer bisher nicht erreichten Sensitivität von nur einem hundertstel Atomdurchmesser (10-12 m) Genauigkeit und Dilatometer zur Erfassung von Dehnungsprozessen vereint. Komplettiert wird die Sensorik durch herkömmliche Geophone. Dr. Patricia Martinez-Garzon, die GONAF gemeinsam mit Marco Bohnhoff koordiniert: „Dadurch können wir das gesamte Spektrum an Deformationsprozessen in nur einer Bohrung überwachen – dies gibt es so bisher nirgends.“ Hinzu kommt eine zweite Bohrung an gleicher Stelle, in der ein Porendrucksensor auftretende Druckwellen erfasst. Sämtliche Daten werden in Echtzeit parallel nach Potsdam zum GFZ und nach Ankara zu AFAD übermittelt.
Ziel ist es, ein neuartiges prognosebasiertes Erdbebenfrühwarnsystem für den Raum Istanbul zu entwickeln. Dieses zielt darauf ab, eventuelle vor einem starken Erdbeben auftretende Signale vollautomatisch zu analysieren und dann den türkischen Behörden zu übermitteln, um gegebenenfalls Warnungen auszusprechen. Dies ist von kritischer Bedeutung, weil aufgrund der geringen Entfernung von nur wenigen Zehner-Kilometern zwischen der Marmara-Störungszone und dem Ballungsraum Istanbul der Einsatz von klassischen Erdbeben-Frühwarnsystemen bestenfalls wenige Sekunden Zeit für eine Warnung ließe.
Weitere GONAF-Standorte mit identischer Messtechnik wie nun auf Kapidag sind bereits für die Nordküste des Marmarameeres vorgesehen und in der Umsetzung.
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Prof. Marco Bohnhoff
marco.bohnhoff@gfz-potsdam.de
Dr. Patricia Martinez Garzon
patricia.martinez.garzon@gfz-potsdam.de
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