Studie der Uni Bremen: Selbstwahrnehmung, Sexualwissen und Körpergefühl bei Jugendlichen
Haben Argumente für eine offenere Sexualerziehung in einer Gesellschaft, in der Sexualität in der Öffentlichkeit „bis zum Abwinken“ verhandelt wird, überhaupt noch eine Relevanz? Zeigt die „Girlie“-Bewegung nicht, dass Mädchen sich der traditionellen Einbindung in ein heterosexuelles Lebenskonzept um den Preis ihrer Autonomie zunehmend zu entziehen wissen?
Haben Argumente für eine offenere Sexualerziehung in einer Gesellschaft, in der Sexualität in der Öffentlichkeit „bis zum Abwinken“ verhandelt wird, überhaupt noch eine Relevanz? Zeigt die „Girlie“-Bewegung nicht, dass Mädchen sich der traditionellen Einbindung in ein heterosexuelles Lebenskonzept um den Preis ihrer Autonomie zunehmend zu entziehen wissen? Und welche Herausforderungen ergeben sich daraus für den schulischen Auftrag zur Sexualerziehung?
Dies war die Ausgangsfrage einer von 1995 – 1998 unter der Leitung von Frau Professor Dr. Milhoffer im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in Köln gemeinsam mit Andreas Gluszczynski, (Lehrer und Sexualpädagoge) und Ulrike Krettmann (Diplom Soziologin) durchgeführten empirischen Studie zum Thema „Selbstwahrnehmung, Sexualwissen und Körpergefühl von Mädchen und Jungen aus 3. bis 6. Klassen“. Die BzgA erwartete von dieser Studie Hinweise für die altersgerechte Gestaltung sexualpädagogischer Medien und Aufklärungsbroschüren. Die Ergebnisse wurden mittlerweile auf diversen Tagungen, Lehrer- und Elternfortbildungen und Statusseminaren und in Fachzeitschriften vorgestellt.
Der aus der Studie entstandene Leitfaden und die ihm zugrundeliegenden empirischen Ergebnisse, (einschließlich einer Teilstudie zum Meinungsprofil der Kinder aus Migrantenfamilien von Andreas Gluszczynski) können als Band 13.1. „Kinder“ (Bestellnummer 133 001 13, ISBN 3-933191-17-3) und Band 15 als Arbeitsmappe „Sexualerziehung, die ankommt…“ (Bestellnummer 133 000 15, ISBN 3-933191-25-4) der Reihe „Forschung und Praxis der Sexualaufklärung und Familienplanung bei der BZgA 51 101 Köln angefordert werden.
Seit Oktober 2000 liegt zudem vor:
Petra Milhoffer (2000): Wie sie sich fühlen, was sie sich wünschen. Eine empirische Studie über Mädchen und Jungen auf dem Weg in die Pubertät. Weinheim: Juventa
Forschungsdesign
Schriftlich ermittelt und in einer zweiten Phase in geschlechtshomogenen Gruppengesprächen mit Kindern und mit ExpertInnen validiert wurde in dieser Studie :
- wie Mädchen und Jungen gerne sein möchten
- welche Fächer sie gerne haben
- was in der Schule anders sein sollte
- was sie gerne in der Pause und in der Freizeit machen
- wie sie in der Schule miteinander auskommen
- welche Fragen sie zum Körper und zur Sexualität haben
- welche Wünsche sie an die Gestaltung der schulischen Sexualerziehung, der „Sexualkunde“ haben.
Die Stichprobe der schriftlichen Befragung umfasste insgesamt gerade noch achtjährige und gerade schon vierzehnjährige Mädchen und Jungen von mehreren Schulen einer norddeutschen Großstadt, quer durch alle Stadtteile (18 Klassen, 190 Jungen und 147 Mädchen). In einer zweiten Phase wurden die Kinder in freiwilligen geschlechtshomogenen Gruppengesprächen mit den Ergebnissen der Studie konfrontiert, zu ihrer Meinung dazu befragt und zu ihrer Einstellung zu Sexualität und dem „Schulprogramm Sexualkunde“ interviewt. Insgesamt wurden die Meinungen von etwa 550 Kindern im Alter zwischen acht und 15 Jahren erhoben.
Der Rücklauf der Fragebögen betrug fast 100%, obwohl die Befragung freiwillig und anonym war. Das ist auf die ansprechende Gestaltung des Fragebogens zurückzuführen und auf die Tatsache, dass die Kinder ihn ohne Aufsicht der Lehrperson in der Klasse ausfüllen und sich bei Unklarheiten an eine Mitarbeiterin der Studie wenden konnten.
Eine gewisse Selektion im Meinungsspektrum mag sich daraus ergeben haben, dass die Sexualerziehung im Bundesland Bremen im Lehrplan für den Sachunterricht der Grundschule verankert ist, dass einige Gesamtschulklassen dabei waren, deren Schüler/innen vom integrativen Konzept von Gesamtschulen profitieren und dass nur Lehrkräfte zur Mitarbeit bereit waren, die die Notwendigkeit schulischer Sexualerziehung anerkennen und entsprechend reflektiert handeln.
Schlaglichter auf die Ergebnisse
Hier nun ein paar Ergebnisse, die auf das große Wissensbedürfnis und die soziale Kompetenz von Kindern dieser Altersgruppe hinweisen, in denen sich jedoch auch Spuren geschlechtsspezifischer Sozialisation wiederfinden.
Um der Rekonstruktion von Geschlechterstereotypen durch solch eine Auszählung nach dem Geschlecht entgegenzuwirken, ist der Hinweis wichtig, dass sich die Überschneidungsmenge gleicher Auffassungen von Mädchen und Jungen in dieser Stichprobe größer erwies als geschlechtsspezifische Unterschiede.
Dies gilt vor allem da, wo die Kinder gebeten wurden, über sich selbst , d.h. ihre Wunscheigenschaften und ihr Wirklichkeitsselbst nachdenken.
So ist in das Selbstbild wie auch das Wunschbild von Mädchen wie Jungen in der Reihenfolge der Aufzählung am häufigsten integriert, sportlich, klug, mutig, stark, gut aussehend und witzig zu sein.
Die Wünsche an die Schule (mehr Sportunterricht, mehr Möglichkeiten zur Bewegung, mehr Gelegenheit zum gemütlichen Miteinander, mehr Chancen zu kreativer Betätigung) und an das Miteinander im Schulalltag (mit Ausnahme des Sexualunterrichts bevorzugen mehr Jungen und Mädchen, koedukativ, statt geschlechtsgetrennt unterrichtet zu werden) sind fast gleich und auch in der positiven Einstellung zu einer partnerschaftlichen Aufgabenverteilung in Haushalt und Familie gibt es kaum Differenzen.
Stereotype greifen da, wo die Kinder um Aussagen über das Verhalten anderer Mädchen und Jungen gebeten werden.. Da heißt es dann leicht verallgemeinernd: die Jungen sind laut, sie stören, sie schlagen immer gleich zu; bzw. die Mädchen petzen, oder die Mädchen sind zickig, wobei auffällig ist, dass mehr Mädchen über Jungen in dieser Weise ’herziehen’ als umgekehrt.
Einige Unterschiede in der Selbsteinschätzung und in den Lebensplänen der Mädchen und Jungen weisen zwar auf geschlechtsspezifische Sozialisationserfahrungen hin, kennzeichnen jedoch auch klar die objektiv unterschiedlichen Entfaltungschancen von Mädchen in einer nach wie vor geschlechtshierarchisch organisierten Gesellschaft.
- Mädchen integrieren weniger häufig als Jungen ihr Bewegungsbedürfnis in ihre Lebenspläne und bevorzugen pflegerische, haushaltsnahe und pädagogische Berufe (obwohl sie gleich häufig von sich sagen, sie seien sportlich, hat das keine Konsequenzen für ihre Berufswahl, Jungen haben demgegenüber in Einklang mit ihrem Bewegungsbedürfnis raumgreifende und bewegungsorientierte Berufspläne)
- Mädchen haben häufiger Probleme mit ihrem Körper und ihrem Aussehen als Jungen (sie wollen häufiger dünner sein und haben insgesamt mehr an ihrem Körper auszusetzen, bis dahin, dass sie belastende Körpererfahrungen „da gibt es noch etwas, was ich nicht sagen mag“ mit sich herumtragen, über die sie nicht sprechen mögen);
- Mädchen weichen häufiger als Jungen körperlichen Auseinandersetzungen aus und bevorzugen konstruktive Konfliktlösungen (in Konflikten verhalten sie sich nach ihren Aussagen defensiver, und versuchen verbal, durch Ausweichen oder gar konstruktiv miteinander ins Reine zu kommen );
- Mädchen haben häufiger als Jungen das Bedürfnis, auch mal unter sich sein zu können, d.h. sie fühlen sich durch die Gegenwart von Jungen eher beeinträchtigt und gestört als dies bei Jungen der Fall ist;
- Mädchen zeigen häufiger Verantwortung gegenüber sexuellen Risiken (Krankheiten, Infektionen, Frühschwangerschaften) und äußern Angst vor sexueller Gewalt. Auch Jungen sehen in den Risiken und Gefahren ein Problem, interessieren sich jedoch vergleichsweise häufiger für den Lustaspekt von Sexualität (Sex, Orgasmus, mit jemandem schlafen).
Konsequenzen für die Sexualpädagogik
Zwei „Faustregeln“ kristallisieren sich nach Lage der Dinge für eine Sexualerziehung heraus, die das Wissensbedürfnis von Mädchen und Jungen befriedigen, Unsicherheiten abbauen, das gegenwärtige Miteinander in der Phase der Pubertät entspannen und die Gleichwertigkeit der Geschlechter vermitteln will.
(1) Sexualerziehung muss früh beginnen. Sie muss von Anfang an – unabhängig vom Geschlecht – ein bejahendes zärtliches Körpergefühl vermitteln. Sie muss immer dann, wenn Kinder in der Familie, im Kindergarten und der Grundschule beginnen, naive Theorien zu entwickeln und Fragen zur Sexualität zu stellen, mit altersgerechten, sachlich korrekten Antworten zur Stelle sein. Eltern und andere wichtige Bezugspersonen sollten zudem ernstnehmen, in welchem Ausmaß ihre eigene Einstellung zur Sexualität sich auf die des Kindes überträgt.
(2) Sexualerziehung muss sich als Sozialerziehung verstehen und als solche sowohl durch das eigene Vorbild, durch Informationen und Handlungsanlässe Hilfen geben für ein tolerantes, liebevolles und verantwortungsbereites Umgehen mit dem eigenen und dem anderen Geschlecht.
Allein mit Appellen und verbalen Anweisungen werden sich Jungen und Mädchen freilich kaum zu verständnis- und liebevollem Umgang miteinander bewegen lassen. Vielmehr müssen Situationen geschaffen werden, die solchesVerhalten nicht nur ermöglichen, sondern herausfordern. Das heißt, der Unterricht muss kooperativ, kommunikativ und konkurrenzarm gestaltet sein, den Schülerinnen und Schülern muss Verantwortung für sein Gelingen übertragen werden und er muss alle Sinne ansprechen.
Eine zeitgemäße Sexualerziehung sollte nach diesen Erkenntnissen
- Gefühle ansprechen, ohne Mädchen und Jungen damit bloßzustellen;
- Sachinformationen geben, die ein sicheres Körpergefühl vermitteln und die biologische und soziale Gleichwertigkeit von Mann und Frau einsichtig machen;
und immer wieder
- stereotype Rollenbilder und Verhaltenszuweisungen zwischen den Geschlechtern kritisch hinterfragen und zu verändern versuchen.
Sexualerziehung, die sich als Sozialerziehung versteht, hätte demzufolge an der bewusst antisexistischen Gestaltung des gegenwärtigen Miteinanders anzusetzen.
Mädchen und Jungen müssen durch Informationen und Handlungsangebote zum Verständnis ihres Sozialverhaltens und ihrer Umwelt befähigt und zur Erweiterung ihrer Lebenspläne auf rollenunübliche Bereiche ermutigt werden.
Damit werden rollenüberschreitende Erfahrungen möglich, die sich mit großer Wahrscheinlichkeit stärker auf die sexuelle Selbstsicherheit und die Rollenflexibilität von Kindern auswirken, als solche Unterrichtskonzepte, die medizinisches Fachwissen vermitteln, vor Risiken warnen und sich auf Fragen zukünftiger Gestaltung von Ehe und Partnerschaft beschränken.
Zur Autorin:
Prof. Dr. rer. pol., Dipl. Soz. Petra Milhoffer geb. 1946, Studium in Frankfurt/Main und an der Freien Universität Berlin, Soziologie, Psychologie, Politik und Pädagogik.Seit 1974 Professorin an der Universität Bremen für Sozialisation und politische Bildung im Elementar- und Primarbereich, seit 1996 ebenda Professorin für Grundschulpädagogik mit dem Schwerpunkt Sachunterricht/Sozialwissenschaften.
Arbeitsschwerpunkte: Familiensoziologie, Sexualpädagogik, Frauenforschung, Sozialisationsforschung, Grundschulpädagogik,Bibliothekspädagogik,Sachunterricht.
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