Junge Deutsche zwischen nationaler und europäischer Identität
Sozialwissenschaftler der International University Bremen (IUB) untersuchten die Einstellung deutscher Jugendlicher zu Europa für die Studie „Jugend und europäische Identität“
Der EU-Verfassungsentwurf vom Juni 2003 soll die politische Integration Europas und die Identifikation der EU-Bürger mit Europa stärken. Inwieweit europäische Jugendliche bereits jetzt eine spezifisch europäische Identität empfinden und welche Bedeutung sie dem EU-Einigungsprozess zumessen, untersucht die Studie „Youth and European Identity“. Das 2001 von der Europäischen Kommission mit dreijähriger Laufzeit in Auftrag gegebene Projekt wird von Forscherteams aus fünf Ländern (Deutschland, Großbritannien, Österreich, Spanien und der Slowakei) in zehn europäischen Städten durchgeführt. Erste Ergebnisse aus den beiden deutschen Teststädten Bielefeld und Chemnitz erarbeiteten die Sozialwissenschaftler Klaus Boehnke, Professor of Social Science Methodology, und Dipl.-Soz. Daniel Fuß von der International University Bremen (IUB).
Hier 10 wichtige Ergebnisse für Deutschland (Einzelheiten zu Untersuchungsbedingungen s. u.):
1. Stärkste Verbundenheit mit Europa in Deutschland:
Im Vergleich der beteiligten Nationen identifizieren sich die deutschen Jugendlichen am stärksten mit Europa. Nahezu zwei Drittel (63 %) aller Befragten aus Deutschland fühlen sich stark bzw. sehr stark mit Europa verbunden; in Manchester, Edinburgh und Bilbao sind es dagegen weniger als ein Drittel (vergl. Abb. A). Auch bei der Wichtigkeit und dem subjektiven Gefühl, ein Bürger der EU zu sein, erreichen beide deutschen Städte Spitzenwerte.
2. Nationale und europäische Identität in Deutschland ergänzen einander:
Das Nationalbewusstsein der jungen Deutschen ist nur geringfügig stärker ausgeprägt, als ihre europäische Identität. Gut zwei Drittel der Teilnehmer der Studie (69 %) fühlen sich stark bzw. sehr stark mit Deutschland verbunden. Das am stärksten ausgeprägte Nationalbewusstein dagegen zeigen die Jugendlichen der Städte Prag und Bratislava als Vertreter der EU-Beitrittskandidaten (vergl. Abb. A).
3. Europa = EU:
Für gut die Hälfte der deutschen Befragten (54 %) ist die EU das zentrale Merkmal, das sie mit Europa verbinden. Deutlich weniger Jugendliche sehen Werte und Traditionen oder die geographische Lage als wichtigere Europa-typische Merkmale an (17 % bzw. 16 %). Die gemeinsame Währung Euro war nur für 13 % der Befragten als Merkmal wichtiger als die EU.
4. Europäische Identität fördert Toleranz:
Je stärker die Verbundenheit mit Europa unter den befragten deutschen Jugendlichen, desto eher werden Menschen anderer Herkunft als kulturelle Bereicherung betrachtet und desto stärker werden fremdenfeindliche Aussagen abgelehnt.
5. EU-Mitgliedschaft der Bundesrepublik positiv bewertet:
Die überwiegende Mehrheit der Befragten verbindet die deutsche EU-Mitgliedschaft mit positiven Auswirkungen auf das eigene Land (64 %), die Heimatregion (53 %) sowie das eigene Leben (43 %). Nur wenige junge Menschen bewerten die deutsche EU-Mitgliedschaft für die genannten Bereiche als negativ (im Schnitt 10 %) oder messen ihr gar keine Bedeutung bei (im Schnitt 5 %).
6. Europa als berufliche Chance:
Gut jeder Fünfte (22 %) der befragten Jugendlichen aus Deutschland hält es für wahrscheinlich bzw. für sehr wahrscheinlich, in naher Zukunft einmal im europäischen Ausland zu leben und zu arbeiten. Unter den europäischen Befragten werden diese Mobilitätsabsichten nur von den österreichischen Jugendlichen übertroffen (30%).
7. Interesse an europäischer Einigung relativ gering:
Obwohl die Grundeinstellung von Jugendlichen in Deutschland zu Europa positiv ist, ist das konkrete politische Interesse der Jugendlichen an Europa gering. Im Vergleich zu Themen wie Ausbildung, Arbeit, Gleichberechtigung, Armut, Terror u. a. rangiert das Interesse an der politischen europäischen Integration bei den jungen Deutschen nur auf dem letzten Rang (vergl. Abb. B).
8. Begrenzte Bereitschaft zur Teilnahme an Europawahlen:
Wären am kommenden Sonntag Bundestagswahlen, dann würden sich 80% der befragten deutschen Jugendlichen beteiligen. Bei Wahlen zum europäischen Parlament hingegen läge dieser Anteil nur bei 60%.
9. Bildung entscheidend für europäische Identität:
Bisher spielt die EU als Schulthema nur eine untergeordnete Rolle: Nur 20% aller Befragten in Deutschland berichten, dass die EU und ihre Institutionen, Gesetze und Politik während ihrer Schulzeit in größerem Umfang behandelt wurden. Bildung generell ist jedoch ein entscheidender Faktor zur Förderung einer europäischen Identität: Wer Fremdsprachenkenntnisse hat, einen höheren Bildungsabschluss hat oder eine international orientierte Ausbildung absolviert bzw. sich häufiger mit Freunden über politische Themen unterhält, fühlt sich deutlich stärker mit Europa verbunden.
10. Internationale Erfahrungen fördern Europaverbundenheit:
Befragte, die für einen längeren Zeitraum außerhalb der Bundesrepublik gelebt oder Freundschaften zu Menschen anderer Nationalität bzw. ethnischer Herkunft haben, identifizieren sich stärker mit Europa.
Ergänzende Informationen zur Studie „Youth and European Identity“:
Für die Studie wurden im Sommer 2002 in allen Teststädten jeweils 400 zufällig ausgewählte Personen im Alter von 18 bis 25 Jahren befragt. Für die Erhebung ausgewählt wurden Städte, die unterschiedliche Regionstypen repräsentieren: Chemnitz und Bielefeld für Deutschland, Edinburgh und Manchester für Großbritannien, Bregenz und Wien für Österreich, Bilbao und Madrid für Spanien; die beiden EU-Beitrittskandidaten Tschechien und Slowakei sind durch Prag und Bratislava vertreten.
Bei den vorgestellten Ergebnissen handelt es sich um einen Ausschnitt der bisher durchgeführten Analysen. Weitere gezielte Befragungen von Jugendlichen in international orientierten Ausbildungssituationen und qualitative Tiefeninterviews mit ausgewählten Befragungsteilnehmern sollen im weiteren Verlauf der Studie die Erkenntnisse über die Rolle Europas bei jungen Menschen vertiefen.
Fragen beantworten:
Dipl.-Soz. Daniel Fuß
International University Bremen
Tel.: 0421-200 3403
E-Mail: d.fuss@iu-bremen.de
Prof. Dr. Klaus Boehnke
Professor of Social Science Methodology
International University Bremen
Tel.: 0421-200 3401
E-Mail: k.boehnke@iu-bremen.de
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