Fachhochschule Düsseldorf entwirft Alternativen zur Agenda 2010

Umbau statt Abbau des Sozialstaats

„Zur Agenda 2010 gibt es keine Alternative“ wiederholen Bundeskanzler Schröder und SPD-Vorsitzender Müntefering seit 15 Monaten gebetsmühlenartig, zuletzt noch am Tag nach der Abstrafung der Regierungspolitik in der Europawahl. Mit der Frage, ob die Agenda 2010 wirklich so alternativlos ist, setzte sich der Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Fachhochschule Düsseldorf während der Tagung zum Thema „Aktivierender Sozialstaat – Konsequenzen der sozialpolitischen Reformen für Soziale Arbeit“ am 17. Juni 2004 auseinander.

Der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Volker Eichener untersuchte die sachlichen Begründungen der Agenda 2010. Dass der demographische Wandel – wie behauptet – zu Kürzungen der Sozialleistungen führen müsse, sei überhaupt nicht nachvollziehbar. Vielmehr merkte Eichener an, dass die Logik der Agenda 2010

– falsche Diagnosen,
– kontraproduktive Strategien,
– oberflächliche Gerechtigkeitskonzepte,
– handwerkliche Fehler und
– unmenschliche Ziele

beinhalte. Am Beispiel der Renten- und Gesundheitsreform demonstrierte er, dass die Agenda 2010 Ursachen und Wirkungen verwechselt und die Strukturprobleme des Systems der sozialen Sicherung, das noch aus dem Jahr 1881 stammt, unangetastet lässt. Prof. Eichener erklärte:

„Es ist richtig, dass im gegenwärtigen System die Kostensteigerungen im Gesundheitswesen den Arbeitsmarkt belasten. Aber es ist deshalb noch lange nicht zwingend, Gesundheitsleistungen abzubauen. Vielmehr wäre es logisch, die Finanzierung des Gesundheitssystems nach 123 Jahren endlich einmal umzubauen. Denn Gesundheit ist schließlich das höchste Gut – und ein Wachstumsmotor für die Beschäftigung noch dazu.“

Alternativen zur Agenda 2010 seien bereits seit längerer Zeit entwickelt und erprobt, insbesondere ein neuer Wohlfahrtsmix, der vermehrt auf nicht-monetäre Sozialleistungen setzt, die Schaffung von Beschäftigungsmöglichkeiten für ältere Arbeitnehmer und die Entkoppelung der sozialen Sicherung vom Beschäftigungsverhältnis, das nur noch 46% der Menschen in Deutschland aufweisen. „Das erfordert aber eine politische Vision einer neuen Wohlfahrtskultur, die beinhaltet, dass wir uns soziale Leistungen auch etwas kosten lassen wollen, allerdings ohne, wie bisher, die Arbeitskosten damit zu belasten“, meinte Eichener.

Verfassungsrechtliche bedenken gegenüber den Hartz IV-Gesetzen
Mit der rechtlichen Problematik der Hartz-IV-Gesetze setzte sich Prof. Dr. Utz Krahmer auseinander. „Das Hartz-IV-Paket ist teilweise verfassungswidrig“, sagte Krahmer dazu, „es verstößt gegen das Sozialstaatsprinzip, weil ein würdevoller Lebensunterhalt nicht mehr gewährleistet ist, und gegen das Rechtsstaatsprinzip, weil im Gesetz vorgesehene Maßnahmen der Verwaltung gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit verstoßen.“ Insbesondere die Vorschrift, dass in den sogenannten Eingliederungsvereinbarungen zwischen Arbeitsagentur und Arbeitssuchenden eine fehlende Einwilligung der Betroffenen durch einen Verwaltungsakt ersetzt wird, stelle einen „Formenmissbrauch“ dar, da hier lediglich der Schein der Vertragsfreiheit vorgespiegelt würde, es sich aber tatsächlich um Zwangsmaßnahmen handele.

Umsetzungsprobleme am Beispiel Düsseldorf

Darüber hinaus weist die Hartz-IV-Gesetzgebung eine Fülle handwerklicher Mängel auf. „Diese Gesetze sind handwerklich äußerst schlecht gemachte Gesetze, die von überlasteten Ministerialbeamten zum Teil über Nacht nach den Vorgaben der politischen Spitzen zurechtgezimmert wurden“, so Krahmer. Die Folge sind widersprüchliche Bestimmungen und Unklarheit bei der Umsetzung, die der Leiter der Rechtsstelle des Düsseldorfer Sozialamtes, Rainer Gilles, anschaulich darstellte. Vollkommen unklar ist insbesondere die vorgesehene Zusammenarbeit zwischen Kommunen und Arbeitsagenturen. Die bürokratische Dimension wurde deutlich, als Gilles erwähnte, dass allein die Stadt Düsseldorf in den nächsten Wochen 21.500 16seitige Antragsformulare verschickt.

Konsequenzen des Paradigmenwechsels in der Sozialpolitik und für Soziale Arbeit
Einen grundlegenden Abschied vom Sozialstaat diagnostizierte der Verwaltungswissenchaftler Prof. Dr. Achim Trube. Der ursprünglich in England für „New Labour“ entwickelte Jargon des „Fördern und Forderns“ sei mittlerweile zur „Erfolgsstory“ geworden. Neu sei, dass jetzt das Prinzip „keine Leistung ohne Gegenleistung“ eingeführt worden ist. Unlauter am aktivierenden Sozialstaat ist jedoch, dass zwar dem Bürger umfangreiche Leistungspflichten auferlegt werden, dass aber die staatlichen Leistungen häufig nur als Kann-Vorschriften definiert werden.

Angesichts einer Beschäftigungslücke von 6,7 Millionen Arbeitsplätzen in Deutschland gerät das Prinzip des „Förderns und Forderns“ zur Farce. Prof. Trube:
„Soziale Arbeit wird zur Vermittlungsinstanz eines Wahrheitsregimes, mit dem den Betroffenen glaubhaft gemacht werden soll, dass das seit einem Vierteljahrhundert bestehende Problem der Arbeitslosigkeit durch individuelles Bemühen zu lösen ist.“
Die irrige Auffassung, dass der Sozialstaat nicht mehr zu finanzieren sei, widerlegte Trube anhand statistischen Materials, das zeigte, dass die Sozialleistungsquote in Deutschland seit 30 Jahren praktisch unverändert geblieben ist – und dies trotz Wiedervereinigung oder Einführung der Pflegeversicherung.

Die rund 120 Teilnehmer, die sich in der Fachhochschule eingefunden hatten, gingen überwiegend mit einer veränderten Einschätzung der Agenda 2010 nach Hause. Alternativlos ist das sozialpolitische Kürzungsprogramm keineswegs, wohl aber Ausdruck veränderter politischer Prioritätensetzung. Oder wie es Prof. Eichener ausdrückte: „Eigentlich war der aktivierende Sozialstaat nur ein Vehikel für die sogenannten Modernisierer in der SPD, sich gegenüber der älteren Generation der Traditionalisten durchzusetzen. Mittlerweile hat man das Gefühl, sie glauben selber daran.“

Media Contact

Simone Fischer idw

Weitere Informationen:

http://www.fh-duesseldorf.de

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