Die Nesthocker-Generation
Ausziehen von zu Hause ist ein Schritt ins Erwachsenenleben, der immer später stattfindet. Vor allem in Italien. Ein Vergleich mit Deutschland zeigt, dass Wohnen bei den Eltern auch eine Reaktion auf gesellschaftliche und finanzielle Randbedingungen ist.
Dass erwachsene Kinder mit über 25 Jahren noch zu Hause wohnen, ist in Deutschland nicht der Normalfall: 70% der jungen Männer und gar 90 % der jungen Frauen leben längst mit einem Partner, in einer Wohngemeinschaft oder auch alleine im eigenen Haushalt, auch wenn das meist mit einer Minderung des Lebensstandards einhergeht. Gerade in den Bildungsschichten erwarten Eltern, dass ihr Kind sich bald nach dem Schulabschluss auf eigene Füße stellt. Ganz anders sieht die Situation in Italien aus: Die Familie ist noch immer die vorherrschende Form des Zusammenlebens und ausgezogen wird in der Regel erst dann, wenn die jungen Leute selbst eine Familie gründen. Ein Auszug aus dem elterlichen Heim ohne einen „triftigen“ Grund wie Heirat oder ein Stellenangebot in einer entfernten Stadt ist ungewöhnlich. So leben in Italien mit 25 Jahren erst rund 30% der Männer und 50 % der Frauen im eigenen Haushalt, den sie dann auch meistens schon mit einem Ehepartner führen.
Solche Entscheidungen sind aber nur zum Teil auf den unterschiedlichen Stellenwert der Familie in Deutschland und Italien zurückzuführen, sondern spiegeln auch die wirtschaftlichen und gesetzlichen Rahmenbedingungen, sagt Dr. Alessandra Rusconi. Die Soziologin, die die Forschungsarbeiten für ihre Doktorarbeit am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin im Forschungsbereich Bildung, Arbeit und Gesellschaftliche Entwicklung (Leitung: Prof. Dr. Karl Ulrich Mayer) durchgeführt hat, stützt ihre Analyse auf eine große europaweite Befragung, den Family and Fertility Survey, kurz FFS genannt. Im Rahmen dieser großen Untersuchung zu Themen wie Familie, Kinder, Heirat, Trennung, Lebensform und Umzügen wurden in den 1990er Jahren in einigen europäischen Ländern, darunter auch Italien und Deutschland jeweils etwa 5000 Erwachsene zwischen 20 und 40 Jahren befragt.
Beide Länder haben einige gemeinsame Entwicklungen hinter sich, betont Rusconi: Seit den 1960er Jahren finden Eheschließungen immer später statt und sowohl in Deutschland (heute 1,4 Kinder pro Frau) als auch in Italien ( heute 1,2 Kinder pro Frau) sind die Geburtenraten stark gesunken. Während aber in Deutschland sich neben der Ehe auch andere Lebensformen etabliert haben und immer mehr Frauen kinderlos bleiben, ist diese Entwicklung so nicht in Italien zu beobachten: Nach wie vor wird geheiratet und nur wenige Frauen bleiben kinderlos, die meisten allerdings haben nur ein Kind.
Sowohl in Deutschland als auch in Italien sieht der Gesetzgeber die Familie als Solidargemeinschaft, die für die wirtschaftlich schwächeren Mitglieder – also auch für die Kinder in Ausbildung oder Arbeitslosigkeit – aufkommen muss. Aber während in Deutschland erwachsene Kinder in Ausbildung einen Anspruch darauf haben, entweder von ihren Eltern oder dem Staat (beispielsweise durch BaföG oder Wohngeld und Sozialhilfe) finanziell unterstützt zu werden, hält der italienische Staat die Förderung der jungen Erwachsenen für eine reine Familienangelegenheit: Junge Erwachsene müssen selbst mit ihren Eltern aushandeln, welche Art/Form der Unterstützung die Familie geben kann. Ein häufiger Kompromiss ist es, im elterlichen Haushalt wohnen zu bleiben – vermutlich auch um das Budget nicht noch stärker zu belasten.
Dazu kommt, dass in Italien nur etwa 20% des Wohnungsmarkts vermietet wird (im Vergleich zu 60% in Deutschland) und daher der erste eigene Haushalt oft mit dem Kauf einer Wohnung verbunden ist.
Obwohl in Süditalien weitaus traditionellere Familienvorstellungen herrschen, ist die Mobilität der jungen Leute dort deutlich höher als in Norditalien. Das ist allerdings nur auf den ersten Blick erstaunlich, sagt Rusconi, denn in Süditalien gibt es weder besonders gute Universitäten noch Arbeitsplätze für junge Leute – Eltern, die es sich leisten können, ihren Kindern Zukunftschancen zu bieten, finanzieren ihnen daher auch ein Studium bzw. einen Berufsstart in einer anderen Stadt. Erwachsene in Süditalien, die bei ihren Eltern leben (müssen), fühlen sich daher oft besonders benachteiligt – zum einen, weil sie wenig Chancen vor Ort haben, zum anderen aber auch, weil vor allem die Frauen viele Familienpflichten übernehmen müssen und weniger Freiheiten haben. In Norditalien dagegen finden sich gute Ausbildungsstätten, Jobchancen und Universitäten direkt vor der Haustür. Hier bleiben junge Leute oft auch dann zu Hause wohnen, wenn sie schon selbst verdienen. „Mir fehlt doch zu Hause gar nichts!“ lautet eine typische Auskunft von unverheirateten norditalienischen jungen Männern.
In Italien herrscht im Vergleich zu Deutschland eine dreimal höhere Jugendarbeitslosigkeit, während der Ausbildung gibt es kein Lehrlingsgehalt, beim Studium fehlen Programme wie BaföG und ein Anrecht auf Sozial- oder Arbeitslosenhilfe gibt es für junge Erwachsene auch nicht. „Das ist jedoch ein Henne-Ei-Problem“, meint Rusconi, man könne schlecht unterscheiden, ob sich der italienische Staat aus der Verantwortung für die jungen Erwachsenen heraushält, weil die Familie so wichtig ist oder ob es umgekehrt ist. Aber die unterschiedlichen Ansprüche, die junge Erwachsene in den beiden Ländern gegen ihre Eltern geltend machen können, haben einen Einfluss auf das Verhältnis zwischen den Generationen, findet die Wissenschaftlerin: In Deutschland begegnen sich Eltern und ihre erwachsenen Kinder als Verhandlungspartner auf gleicher Ebene. In Italien dagegen bleiben sie in ihren jeweiligen Rollen als Eltern und Kinder.
Die Dissertation erscheint im Frühjahr 2005 in Buchform im Shaker-Verlag.
Frau Rusconi arbeitet ab Oktober 2004 an der Universität Bremen, EMPAS, und ist dort unter rusconi@empas.uni-bremen.de erreichbar.
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Weitere Informationen:
http://www.mpib-berlin.mpg.deAlle Nachrichten aus der Kategorie: Gesellschaftswissenschaften
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