Licht ins kriminelle Dunkel
Freiburger Max-Planck-Wissenschaftler legt bisher umfassendste Untersuchung zur organisierten Kriminalität in Deutschland vor
Der Freiburger Kriminologe Jörg Kinzig hat die bisher gründlichste Untersuchung zur Organisierten Kriminalität (OK) in Deutschland vorgelegt. Ausgangspunkt der mehrjährigen Studie, die im Rahmen des Forschungsschwerpunkts „Organisierte Kriminalität“ am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht durchgeführt wurde, ist die seit Mitte der 1990er Jahre zu beobachtende unkritische Verwendung des Begriffes Organisierte Kriminalität in den Medien.
Doch nicht nur in den Medien, auch in der Kriminologie bestanden bisher Unklarheiten darüber, was Organisierte Kriminalität in Deutschland ausmacht und worin ihre besondere Gefährlichkeit begründet liegt. Kinzig hat nunmehr Licht in das empirische Dunkel gebracht. Er stützt sich in seiner Untersuchung auf eine Vielzahl von Quellen: Unter anderem hat er mehr als 50 Fälle Organisierter Kriminalität analysiert, die in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre von Polizei und Staatsanwaltschaft bearbeitet wurden. Daraus resultierten über 200 Ermittlungsverfahren. Darüber hinaus hat Kinzig unter teils konspirativen Umständen Interviews mit Straftätern geführt, die der Organisierten Kriminalität zugerechnet werden.
In seiner Analyse kommt der Verfasser zu einigen überraschenden Ergebnissen. So stand in 60 der 110 durchgeführten Verfahren nur eine einzige Person vor Gericht. Eine gleichzeitige Hauptverhandlung gegen mehr als sieben Personen lässt sich offensichtlich im deutschen Strafrecht, anders als etwa in Mafiaverfahren in Italien, kaum durchführen. Was die bisher vermutete spezifische Gefährlichkeit der kriminellen Gruppierungen angeht, widersprechen die 52 untersuchten Fälle dem erwarteten Bild Organisierter Kriminalität. Täterverbindungen, die man – wie etwa die Drogen handelnde Täterverbindung in Abb. 2 – aufgrund einer größeren Mitgliederzahl, einem bestimmten Umfang und einer längeren Dauer ihrer kriminellen Tätigkeit, des dabei entstehenden Gewinns sowie einer gewissen, über das Interesse des einzelnen Individuums hinausgehenden Identität als eigenständige kriminelle Organisationen ansehen könnte, waren ausweislich der gerichtlichen Erkenntnisse kaum zu finden.
Sucht man Kriterien, welche die vorgefundenen von gewöhnlichen, nicht der Organisierten Kriminalität zugerechneten Fälle unterscheiden, sind am ehesten zu nennen: die Begehung so genannter opferloser Delikte (etwa Drogenkriminalität), ein hoher Ausländeranteil sowie die Internationalität der Tatbegehung.
So liegt die Bedeutung des Begriffes Organisierte Kriminalität in Deutschland nicht, wie bisher vermutet, darin, dass damit eine besondere Kriminalitätsform identifiziert werden kann. Vielmehr hat sich unter dieser Überschrift ein neues Ermittlungs- und Strafverfahren entwickelt, das in wichtigen Punkten vom traditionellen Strafprozess abweicht und für das die Strafprozessordnung nur unzureichende Regelungen bereithält.
Kennzeichen dieses neuen Ermittlungs- und Strafverfahrens sind:
- Ein aktives Tätigwerden der Polizei – es wird nicht erst auf eine Anzeige hin reagiert.
- Die Nutzung einer Vielzahl geheimer Ermittlungsmaßnahmen, wie die Schaltung von Telefonüberwachungen, der Einsatz verdeckter Ermittler oder aus dem Milieu stammender Vertrauenspersonen.
- Die Schwierigkeiten, die Menge des angehäuften Materials – in einem Fall wurden fast 40.000 Telefonate abgehört – vor Gericht in einer vertretbaren Dauer aufzuarbeiten. Das führt häufig zu so genannten
- Verfahrensabsprachen, d.h. die Verständigung von Gericht, Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Angeklagten über die Höhe der Strafe.
Die Ergebnisse der Studie sind geeignet, die bisher in Deutschland vorhandenen Vorstellungen von Organisierter Kriminalität in einem erheblichen Maße zu korrigieren. Die Resultate werden nicht zuletzt für die weitere Diskussion um Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus von Bedeutung sein.
Originalveröffentlichung: Jörg Kinzig – Die rechtliche Bewältigung von Erscheinungsformen organisierter Kriminalität – Berlin, Duncker & Humblot, 2004
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