Perspektiven der aktuellen Fußgänger- und "Panik"-Forschung

Massenereignisse wie die aktuellen Pilgerströme nach Mekka oder der Weltjugendtag in Köln, bei dem sich über eine Million Besucher durch eine enge Fußgängerzone drängeln werden, sind auch für Wissenschaftler, die sich mit dem Thema Massenpaniken sowie der experimentellen Erforschung und der Computersimulation von Fußgängerströmen und Evakuierungen beschäftigen, eine große Herausforderung.

Im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Forschungsprojektes untersuchen Wissenschaftler der TU Dresden derartige Phänomene und entwickeln mögliche Verbesserungsvorschläge anhand leistungsfähiger Computersimulationen. Das Projekt läuft ab 1. Februar 2005 und wird von Prof. Dirk Helbing vom Institut für Wirtschaft und Verkehr und dem Verkehrspsychologen Prof. Bernhard Schlag an der TU Dresden geleitet.

In den letzten Jahren wurde experimentell erforscht, welche Potenziale Selbstorganisationsphänomene in Korridoren, an Engstellen und in Kreuzungsbereichen für verbesserte Designs von Fußgängeranlagen und die Organisation von Massenveranstaltungen haben. Während sich in normalen Situationen Bahnen einheitlicher Laufrichtung in Korridoren und Oszillationen der Durchgangsrichtung an Engstellen ausbilden, brechen diese optimalen Organisationsformen in Belastungs- und Stresssituationen oft zusammen. Gerade wenn zusätzliche Kapazität gefragt ist, führen Behinderungseffekte und Blockadesituationen dann zu großen Ineffizienzen. Folglich nimmt das Gedränge zu und es kann sich ein lebensgefährlicher Druck in der Menge aufbauen. Solche Ereignisse enden oft tragisch mit Dutzenden von Toten und werden dann häufig als Massenpaniken bezeichnet. Die wahrscheinlich größten Herausforderungen sind mit der jährlichen Pilgerschaft in Mekka verbunden. Der Koran schreibt vor, dass jeder Muslim mindestens einmal in seinem Leben nach Mekka pilgern soll, um ein genau festgelegtes religiöses Ritual zu absolvieren (Hadsch). Insbesondere müssen drei die Versuchung durch den Teufel symbolisierende Säulen (Jamarahs) mit jeweils sieben Steinen beworfen werden. Die Pilger können dieses Ritual ebenerdig oder auf der Jamarat-Brücke vollziehen. In Spitzenstunden drängen sich auf der 80 Meter breiten Brücke bis zu 200.000 Pilger. Das hat in den vergangenen Jahren wiederholt zu tragischen Unglücken geführt, oft mit über 100 Toten. Beim schwersten Unfall kamen sogar über 1.400 Pilger ums Leben.

Das Saudische Königshaus hat daher für die kommenden Jahre einen Neubau der Pilgerstätte beschlossen. Schon in diesem Jahr wurden die Wurfbereiche von einer kreisförmigen zu einer elliptischen Form umgestaltet.

Das DFG-Projekt soll nun unter anderem die Rolle der Form des Wurfbereichs genauer untersuchen. Auch stellt sich die Frage, wieso zu ebener Erde bisher kaum Unfälle aufgetreten sind, obwohl dort pro Stunde genauso viele Pilger wie auf der Brücke ihr Ritual absolvieren und sogar auf der gleichen Fläche noch zurücklaufen. Welche Rolle spielt hier die ebenerdige Expansionsmöglichkeit, wenn in der Menge ein Überdruck entsteht? Haben die tragenden Säulen eine Bedeutung, hinter denen man gegebenenfalls Schutz suchen kann? Oder können die Pilger die Wurfbereiche schneller verlassen, weil sich um sie durch den seitlichen Rückstrom nicht so große Menschentrauben bilden können?

Denkbar sind aber auch Lösungen, um die Menschenströme zu kanalisieren. Wie wirksam könnte der Druck in der Menschenmenge durch eine Art "Wellenbrecher" gemindert werden, die entlang der elliptischen Wurfbereiche angebracht sind, sich also der Strömungsrichtung nicht entgegenstellen? Oder wie wirksam wären zickzack- oder schlangenförmige Geländer, die den Druck in der Menge herunterbrechen und so den Betroffenen "den Rücken freihalten" können? Bei welchem Zustrom können die meisten Pilger pro Stunde ihr Ritual absolvieren? Ist weniger mehr? Und wenn ja, wie kann man die Menschenströme wirksam dosieren, ohne neue Gefahrenherde zu schaffen? Dies sind Fragen, die durch das DFG-Projekt geklärt werden sollen, genauso wie die gefährliche Interaktion von Fußgänger- und Verkehrsströmen.

Die gewonnenen Erkenntnisse werden generell zu innovativen Lösungen für das Management von Großveranstaltungen wie Weltmeisterschaften, Messen und Festivals führen. Auch verbesserte Designlösungen für Architekturen von Bahnhöfen, Flughafenterminals, Museen, Stadien, Einkaufszentren, Hotels und Kreuzfahrtschiffen sind für die Zukunft zu erwarten.
Schon vergangene Forschungsarbeiten haben zu Lösungen geführt, die mehr Effizienz und Sicherheit mit weniger Bewegungsfläche und daher auch potenziell geringeren Kosten erreichen können. Allerdings sehen die Lösungen für typische Designelemente wie Korridore, Engstellen und Kreuzungsbereiche anders als gewohnt aus: Entgegengesetzte Ströme lassen sich z.B. durch eine Reihe von Bäumen stabilisieren. Unvermeidbare Engstellen sollten trichterförmig gestaltet werden, und an unterdimensionierten Kreuzungen kann man auf geschickte Weise eine Art Kreisverkehrslösung zur Konfliktminimierung schaffen. In Bereichen mit großem Gedränge sind Lösungen erforderlich, die den Druck in der Menge reduzieren, ohne die Fortbewegung nennenswert zu behindern. Was wie ein Hindernis aussieht, kann in diesen Fällen Wunder wirken, wenn es richtig positioniert ist. Aber es kommt empfindlich auf die Details an. Die Hindernisse müssen so gestaltet sein, dass sie keine Verletzungsgefahr darstellen und sie die Selbstorganisation in Fußgängermengen unterstützen. Am falschen Ort platziert, können sie sich nachteilig auswirken. Leistungsfähige und realistische Simulationen von Fußgängerströmen sind daher das A und O. Für diese müssen in Zukunft klare Qualitätskriterien und Mindeststandards geschaffen werden.

Weitere Informationen und einfache Simulationsbeispiele zur Illustration sind unter www.helbing.org und www.panics.org zu finden.
Interviewanfragen an Prof. Dirk Helbing sind unter Tel. 0351 463-36802 möglich

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Kim-Astrid Magister idw

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