"Die Platte ist besser als ihr Ruf." Einmaliges Forschungsprojekt räumt mit Klischees auf.
Die Zufriedenheit der Bewohner mit der Wohnqualität ist im Plattenbau so hoch wie nie zuvor seit der Wende. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des Umweltforschungszentrums Leipzig-Halle (UFZ), die Anfang März vorgestellt wurde. Als Basis für diese Studie diente eine repräsentative Befragung von 672 Einwohnern des Leipziger Stadtteils Grünau im Sommer 2004. Zwei Drittel gaben dabei an, sich in der Großsiedlung wohl zu fühlen. Seit 1979 befragen Wissenschaftler die Einwohner ausgewählter Häuser in Abständen von mehreren Jahren. Die Wohn- und Lebensbedingungen in Leipzig-Grünau wurden bereits zum achten Mal untersucht. Der lange Zeitraum und zwei unterschiedliche Gesellschaftssysteme machen diese Intervallstudie zu einem international einmaligen Forschungsprojekt.
„Soziale Brennpunkte, Armenviertel oder gar Slums“ – bei solchen Vorurteilen über ostdeutsche Plattenbausiedlungen kann Dr. Sigrun Kabisch nur mit dem Kopf schütteln. Die Soziologin untersucht seit 25 Jahren die Situation im Leipziger Stadtteil Grünau, also in einem der größten ostdeutschen Plattenbaugebiete. Bis zur Wende baute die DDR rund eine Million Wohnungen in der „Platte“. Das ist fast ein Drittel aller Wohnungen im Osten Deutschlands, die nach dem Zweiten Weltkrieg gebaut wurden.
Im Abständen von mehren Jahren haben die UFZ-Wissenschaftler die Einwohner von Leipzig-Grünau befragt. Initiiert wurde diese Intervallstudie durch Prof. Alice Kahl 1979, an der Universität Leipzig als der Stadtteil noch im Aufbau war. Als Hauptindikator für die Stimmung dient damals wie heute die sogenannte „Gute-Freund-Frage“. 2004 antworteten 60 Prozent der Befragten mit JA auf die Frage „Würden Sie einem guten Freund raten, nach Grünau zu ziehen?“. Das ist der beste Wert seit der Wende. Besser war die Stimmung nur in den ersten Jahren des Wohngebietes. Für dieses überraschende Ergebnis hat Dr. Sigrun Kabisch eine einfache Erklärung parat: „Wer wegziehen wollte, ist schon lange weg. Geblieben sind die überzeugten und zufriedenen Grünauer. Und diese erkennen die inzwischen erfolgten Sanierungs- und Aufwertungsmaßnahmen an.“ Zwei Drittel wohnen seit über 15 Jahren in der Platte“ und verfügen über ein relativ gutes Einkommen. Das durchschnittliche Einkommen pro Haushalt schwankt in Grünau je nach Wohnkomplex zwischen 1412 und 1836 Euro pro Monat. Insgesamt liegt es aber spürbar über dem Leipziger Durchschnitt von 1436 Euro pro Monat. Damit sei das Klischee vom Armenviertel Plattenbausiedlung eindeutig widerlegt, betonen die Soziologen vom UFZ. Dennoch warnen sie: 60 Prozent der Befragten gaben an, dass Ihre Miete die persönliche Schmerzgrenze erreicht habe. Während es sich bei den „Alteingesessenen“ vorwiegend um Senioren handelt, deren Rente noch nicht durch Jahre der Arbeitslosigkeit geschmälert wurde, haben die Neu-Grünauer durchschnittlich geringere Einkommen zur Verfügung.
Zu DDR-Zeiten lebte fast jeder vierte Leipziger im Stadtteil Grünau. Seit der Wende schrumpfte die Bevölkerung in dem Plattenbaugebiet deutlich von 85 000 auf 49 000 Einwohner. „Aber auch 49 000 Einwohner verdienen unsere Aufmerksamkeit“, betont Kabisch. „Das sind immerhin zehn Prozent von Leipzigs Bevölkerung und mehr als in vielen kreisfreien Städten.“ Der Abriss von ausgewählten Wohnblöcken stößt bei den Befragten auf Akzeptanz. Wichtig sei jedoch, dass die Mieten dadurch nicht steigen, dass der Abriss begründet erfolgt und die bestehende Infrastruktur dabei nicht zerstört wird, so die Meinung der Grünauer. In den letzten Jahren wurden über Stadtförderprogramme etwa 40 Millionen Euro in die Modernisierung von Leipzig-Grünau investiert. Statt weiter in die Infrastruktur wolle die Stadt nun künftig kleinteilig in das soziale Umfeld investieren, sagte Leipzigs Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee in einer ersten Reaktion auf die Studie.
„Grünau wird älter, sozial gemischter und vermutlich noch etwas weiter schrumpfen“, so die Prognose von Dr. Sigrun Kabisch und ihren Kollegen Annett Fritzsche und Dr. Matthias Bernt. Aus Sicht der UFZ-Wissenschaftler heißt das: Gebraucht werden mehr altengerechte Wohnungen mit Fahrstuhl. In enger Verbindung mit dem Alter steht auch die hohe Bindung der Mehrheit der Bewohner an Leipzig-Grünau. Für sie ist die Plattenbausiedlung ein lebenswertes Wohngebiet. Außen- und Innenwahrnehmung unterscheiden sich hier deutlich. Für die Einwohner ist klar: Die „Platte“ ist wesentlich besser als ihr Ruf. Tilo Arnhold
Ansprechpartner für die Presse:
Doris Böhme
UFZ-Pressestelle
Telefon: 0341-235-2278
e-mail: presse@ufz.de
Weitere fachliche Informationen:
Dr. Sigrun Kabisch
Leiterin des UFZ-Departments Stadt- und Umweltsoziologie
Telefon: 0341-235-2366
Literatur zum Thema:
Weiske, Christine; Kabisch, Sigrun; Hannemann, Christine (Hrsg.):
Kommunikative Steuerung des Stadtumbaus.
Interessengegensätze, Koalitionen und Entscheidungsstrukturen in schrumpfenden Städten.
VS Verlag, Wiesenbaden, 2005
ISBN 3-531-14358-1
EUR 19,90
Kabisch, Sigrun; Bernt, Matthias; Peter, Andreas:
Stadtumbau unter Schrumpfungsbedingungen.
Eine sozialwissenschaftliche Fallstudie.
VS Verlag, Wiesenbaden, 2004
ISBN 3-8100-4171-8
EUR 22,90
Die Wissenschaftler des UFZ-Umweltforschungszentrums Leipzig-Halle (UFZ) erforschen die komplexen Wechselwirkungen zwischen Mensch und Umwelt in genutzten und gestörten Landschaften. Sie entwickeln Konzepte und Verfahren, die helfen sollen, die natürlichen Lebensgrundlagen für nachfolgende Generationen zu sichern. Das UFZ ist Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft, die mit ihren 15 Forschungszentren und einem Jahresbudget von rund 2.2 Milliarden Euro die größte Wissenschaftsorganisation Deutschlands ist. Die insgesamt 24.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Helmholtz-Gemeinschaft forschen in den Bereichen Struktur der Materie, Erde und Umwelt, Verkehr und Weltraum, Gesundheit, Energie sowie Schlüsseltechnologien
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