Vom "Homo oeconomicus" zum "Homo europaeus"
Bisher war das Recht, sich als EU-Bürger im EU-Ausland aufzuhalten, prinzipiell an den Status als Arbeitnehmer gekoppelt. Die Tübinger Juristin Rosemarie Höfler hat verfolgt, wie sich die Auffassung von der Unionsbürgerschaft wandelt und dabei die Freizügigkeit in der EU ein allgemeines Recht wird. Sie stellt auch dar, welche Möglichkeiten die Politik hat, Wanderungsströmen armer EU-Bürger hin zu reichen EU-Ländern Einhalt zu gebieten.
Tübinger Juristin erforscht ein neues Verständnis von Freizügigkeit für alle EU-Bürger
Durch den Maastricht-Vertrag von 1994 sind die Angehörigen der Europäischen Union auch Unionsbürger geworden. Das sind mittlerweile sehr viele Menschen. Seit Anfang Mai 2004 gehören der EU 25 Mitgliedstaaten mit insgesamt rund 480 Millionen Bürgern an. Innerhalb der EU wird den Bürgern Freizügigkeit gewährt. Prinzipiell kann sich also ein Ire dauerhaft in Frankreich aufhalten oder ein Portugiese Schweden als seinen Wohnort wählen. Mit der EU-Erweiterung im vergangenen Jahr kamen daher auch Befürchtungen auf, dass nun viele ärmere EU-Bürger vor allem aus Osteuropa nach Deutschland ziehen und die hiesigen Sozialsysteme belasten könnten. Rosemarie Höfler von der Juristischen Fakultät der Universität Tübingen hat die Gesetzeslage und die Rechtsprechung der EU in Sachen Freizügigkeit unter die Lupe genommen. Sie hat untersucht, an welchen Stellen die Nationalstaaten der Freizügigkeit Grenzen setzen und stellt dar, in welchen Punkten die EU beim Aufenthaltsrecht noch klare Linien ziehen muss.
„Die EU war lange als Wirtschaftsgemeinschaft definiert. Dabei konnten Arbeitnehmer, Dienstleistungserbringer und Niedergelassene Freizügigkeitsrechte und die damit einhergehenden sozialen Rechte beanspruchen“, erklärt Rosemarie Höfler. Doch jetzt entwickle sich die EU weg von einer reinen Wirtschaftsgemeinschaft hin zu einem politischen Europa. „Der Homo oeconomicus wird zum Homo europaeus. Die Rechte der europäischen Bürger müssen losgelöst werden vom wirtschaftlichen Zusammenhang, also muss sich nun jeder frei bewegen und aufhalten können, auch wenn er kein Arbeitnehmer ist“, sagt die Juristin. Nichterwerbstätige hätten ein Aufenthaltsrecht bisher nur erhalten, wenn sie ausreichende Existenzmittel sowie einen Krankenversicherungsschutz vorweisen konnten. Damit sollte gerade ausgeschlossen werden, dass im Aufenthaltsstaat soziale Ansprüche geltend gemacht werden können. Diese Rechtslage ist durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs überholt. So hatte der Franzose Rudy Grzelczyk im Jahr 2001 erfolgreich den Staat Belgien auf Zahlung von belgischen Sozialleistungen verklagt, nachdem er im vierten Jahr seines Studiums in Belgien nicht mehr genügend Geld für seinen Lebensunterhalt verdienen konnte. Der Staat Belgien hatte die Zahlungen mit der Begründung abgelehnt, dass nur belgische Bürger oder EU-Bürger als Arbeitnehmer ein Recht auf belgische Sozialleistungen hätten. Dagegen hatte der Europäische Gerichtshof im Sinne der Gleichbehandlung von eigenen Staatsangehörigen und Unionsbürgern in der EU entschieden und Belgien zur Zahlung verurteilt. Rosemarie Höfler sieht dies als richtungweisend an. Mittlerweile werde die eingeschlagene Entwicklung durch mehrere Urteile des Europäischen Gerichtshofs bestätigt.
„Es ist unter Juristen weiterhin umstritten, ob die Gleichbehandlung bei Sozialleistungen für Nichtarbeitnehmer zu weit ausgedehnt wird“, sagt Rosemarie Höfler. Denn die ökonomischen Folgen für die reicheren EU-Länder könnten immens sein. Würden tatsächlich viele Menschen ohne Arbeit und Einkommen in die Länder mit vergleichsweise hohen Sozialleistungen einwandern, drohe diesen Staaten die auch in den Medien beschworene Erosion des Wohlfahrtsstaats. Die Sozialsysteme sind bisher national organisiert. Und das werde sicherlich auch so bleiben, so Rosemarie Höfler. „Denn die Nationalstaaten würden zu Recht fragen, was ihnen sonst noch an Kompetenzen bliebe.“ Allerdings hält sie die Befürchtung, dass durch die EU-Verfassung mit dem vorbehaltlosen Freizügigkeitsrecht etwa nach Deutschland ein Einfallstor für arme EU-Bürger geschaffen wird, für übertrieben: „So schrankenlos, wie die Entwicklung für den Laien aussieht, ist sie jedenfalls nicht.“ Die Mitgliedstaaten können ihre berechtigten Interessen weiterhin wahren, indem sie die sozialen Leistungen an bestimmte Voraussetzungen, wie zum Beispiel den gewöhnlichen oder ständigen Aufenthalt, knüpfen.
Rosemarie Höfler hält es für konsequent und an der Zeit, die Freizügigkeit prinzipiell allen EU-Bürgern zu gewähren, auch wenn sie mittellos in ein anderes EU-Land einreisen. Das ergebe sich bereits aus Artikel 18 des Gründungsvertrags der Europäischen Gemeinschaft (EGV), welcher allen ein unmittelbares Freizügigkeitsrecht gewähre; die Entstehung des Rechts hänge nicht mehr vom Nachweis finanzieller Mittel ab. „Dies zeigt sich bereits daran, dass beim Grenzübertritt niemand nach der finanziellen Situation gefragt wird, allenfalls kann die Vorlage eines Ausweises oder Passes verlangt werden“, so die Juristin. Aufgrund einer EG-vertragskonformen Auslegung der Richtlinien könne der Bezug sozialer Grundleistungen allenfalls zur Beendigung des Aufenthaltsrechts führen. Um diese Entwicklung darzustellen, plädiert Rosemarie Höfler für die Einführung des Begriffs der „Unionsbürgerfreizügigkeit“.
Äußerst brisant wird es, wenn nationale Sozialleistungen auch an die eigenen Staatsangehörigen im Ausland geleistet werden können. Höfler nennt einen hypothetischen Fall: Ein nichterwerbstätiger Unionsbürger hält sich mehrere Jahre rechtmäßig in Deutschland auf, geht dann nach Belgien, wird hilfsbedürftig und will von Deutschland Sozialhilfe haben. Deutschland lehnt ab. Der Europäische Gerichtshof müsste nun urteilen, dass es sich um eine Diskriminierung eines EU-Bürgers handelt, aber diese könnte laut Höfler gerechtfertigt sein. Zum Beispiel könnte die Zahlung von Sozialhilfe von Deutschland aus voraussetzen, dass der Kläger einen besonderen Bezug zu Deutschland hat. Frage müsse dann sein, wie viele Aufenthaltsjahre ausreichend sind. „Das ist Neuland“, sagt die Juristin. Denkbar wäre auch, dass der Mann in Deutschland und in Belgien Sozialhilfe beantragt und beide Länder zahlen. „Gegen solchen Missbrauch müssten die sozialen Sicherungssysteme auf der Ebene der EU koordiniert werden“, sagt sie. Sie hat in der neuen EU-Verfassung an versteckter Stelle einen Paragrafen (Art. III-125 Abs. 2) gefunden, in dem der EU auch Kompetenzen bei der Angleichung der Sozialsysteme gegeben werden sollen. „Eine Harmonisierung der Sozialsysteme wird es nicht geben, das geht zu weit. Aber diesen Paragrafen kann die EU für eine notwendige Koordinierung nutzen“, sagt die Juristin.
Nach einer neuen EU-Richtlinie soll das Recht auf Freizügigkeit für Nichterwerbstätige in Zukunft in drei Stufen von bis zu drei Monaten, bis zu fünf Jahren und einem Daueraufenthaltsrecht geregelt werden. „Nach einem fünfjährigen ununterbrochenen Aufenthalt in einem anderen EU-Land gilt dann eine umfassende Gleichbehandlung mit den Nationalstaatsangehörigen, so können beispielsweise dann auch Sozialhilfe oder BAföG bezogen werden“, erklärt Höfler. Allerdings sind Ansprüche auf Studienförderung während der ersten beiden Phasen des Aufenthalts ausgeschlossen. Die Forscherin sieht diese Vorschrift im direkten Widerspruch zu der Rechtsprechung. Ihrer Ansicht nach „müssen Studenten dann wenigstens einen Anspruch auf Sozialhilfe geltend machen können“. Die Unionsbürgerschaft führe zu einer spürbaren Verbesserung der Rechtsstellung des Einzelnen in der EU. Allerdings könne sie, wie bereits im EG-Vertrag dargelegt, die nationale Staatsangehörigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten nicht ersetzen. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit und der Solidarität zwischen den Menschen erreiche nicht jene Tiefe, die der eines nationalstaatlichen Gebildes entspricht. Die Menschen fühlten sich bei allen gemeinsamen Werten doch noch als Deutsche oder Franzosen, so Rosemarie Höfler: „Schließlich heißt das europäische Motto Einheit in der Vielfalt.“
Nähere Informationen:
Rosemarie Höfler
Tel.: 07433 – 92 1310
Mobil: 0176 – 24543521
E-Mail: hoefler@jura.uni-tuebingen.de
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