Integration und Sprache: Professionelle Unterstützung statt Schulhofdeutsch
Die jüngste öffentliche Diskussion über die Integration von MitbürgerInnen und Kindern mit Migrationshintergrund und die damit verbundene Sprachproblematik hat wieder einmal gezeigt, was für eine zentrale Rolle Sprache und Kommunikation in aktuellen gesellschaftlichen Zusammenhängen spielen. Nicht erst seit PISA wissen wir, dass Sprachkompetenz an allen Bildungsvorgängen maßgeblich beteiligt ist. Um zu verhindern, dass immer mehr Kinder und Jugendliche an sprachlichen Barrieren scheitern, muss dringend gehandelt werden. Gezielte Fördermaßnahmen sollten das gesamte Altersspektrum vom Eintritt in die vorschulischen Einrichtungen bis hin zur Berufsschule abdecken.
Aus Sicht der DEUTSCHEN GESELLSCHAFT FÜR SPRACHWISSENSCHAFT (DGfS) ist es dagegen unverantwortlich, Konsequenzen zu ziehen, die allem widersprechen, was die internationale Forschung zur Mehrsprachigkeit und zum Spracherwerb unter Migrationsbedingungen herausgearbeitet hat. Die DGfS wendet sich daher nachdrücklich gegen Stimmen in der öffentlichen Debatte, die auf eine tendenziöse Vereinfachung komplexer Sachverhalte hinauslaufen. Aus der individuellen Regelung einer Berliner Schule („Selbstverpflichtung zum Gebrauch der deutschen Sprache auf dem Schulhof“) lässt sich kein gesellschaftliches Problemlösungsmodell ableiten. Das Schulhofdeutsch, das sich unter Jugendlichen verschiedener Muttersprachen als reduzierte Kontaktsprache herausbildet und für die unmittelbare Kommunikation zweifellos ausreicht, ist sicher nicht diejenige Sprachform, die Kinder und Jugendliche später beruflich voranbringen wird. Keinesfalls kann es sich bei deutschsprachigen Pausengesprächen um die kostengünstige Kompensation eines nötigen Sprachunterrichts handeln. Gerade für jüngere SchülerInnen, die dank intensivierter Fördermaßnahmen im vorschulischen Bereich schon mit etwas besseren Voraussetzungen in die Schule kommen, wäre es fatal, sollten sie sich an den Schulhofvarianten des Deutschen orientieren. Ferner ist es unsinnig, in der gegenwärtigen Situation Regelungen zu etablieren, die den schulischen Raum emotional weiter belasten und Signale aussenden, von denen sich Minderheiten diskriminiert fühlen. Schließlich handelt es sich bei den Betroffenen um Kinder und Jugendliche, die im Schulunterricht ständig mit den Grenzen ihrer sprachlichen Möglichkeiten konfrontiert sind und dadurch in ihrer Identität immer wieder verunsichert werden.
Um die kommunikative Seite der Integrationsproblematik zu bewältigen, müssen vielmehr verschiedene Maßnahmen ins Auge gefasst werden. Dazu gehören:
– Mehr Deutschunterricht mit LehrerInnen, die sichere Kenntnisse im Bereich Deutsch als Zweitsprache besitzen.
– Projekte, in denen in Gruppen mit Kindern unterschiedlicher Herkunftssprachen, inklusive MuttersprachlerInnen des Deutschen, die Bereitschaft zum Deutsch Sprechen und Schreiben auf natürliche Weise gefördert und professionell unterstützt wird, insbesondere auch im Freizeitbereich.
– Echte bilinguale Schulprogramme, in denen der Unterricht von angemessen ausgebildeten LehrerInnen gleichberechtigt in zwei Sprachen erfolgt.
– Die Einrichtung eines Schulfachs „Sprachen“. Darin ließen sich in den unteren Klassen konkrete sprachliche Defizite ausgleichen. Bei älteren Schülern könnte das Bewusstsein für die große Bedeutung kommunikativer Regeln und sprachlicher Eigentümlichkeiten entwickelt und geschärft werden. Auch Kinder mit Deutsch als Erstsprache profitierten von dieser Reflexion über Sprache.
Insgesamt würden diese Maßnahmen allen beteiligten Schülern die Tatsache nahe bringen, dass unsere persönliche und kollektive Identität zentral auf Sprachkenntnissen beruht und in der modernen Welt selbstbewusste mehrsprachige Menschen gefragt sind. Während sich die Hochschulen um Internationalisierung bemühen, ja ganze Studiengänge in Fremdsprachen anbieten, und während wir auf europäischer Ebene an die Bereitschaft zum lebenslangen Lernen von Fremdsprachen appellieren, sollten wir Kindern und Jugendlichen nicht einreden, sie gefährdeten ihre Sprachentwicklung, wenn sie sich auf dem Schulhof in ihrer Muttersprache unterhalten. Die Forschung zum doppelten Erstspracherwerb zeigt, dass der gleichzeitige Erwerb zweier Sprachen problemlos möglich ist.
1. Vorsitzende der DGfS
Prof. Dr. Rosemarie Tracy
Anglistische Linguistik
Universität Mannheim
68131 Mannheim
Tel: +49 (0)621 / 181-2337
Fax: +49 (0)621 / 181-2336
E-Mail: rtracy@rumms.uni-mannheim.de
Pressesprecher der DGfS
PD Dr. Wolf Peter Klein
Seminar für Sprachwissenschaft
Universität Erfurt
99089 Erfurt
Tel: ++49 (0)361 / 737-4351
Fax: ++49(0)361 / 737-4209
E-Mail: wolfpeter.klein@uni-erfurt.de
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