Dort hingucken, wo die Action ist – Gesellschaft im Betrieb

Wo werden Globalisierung, Informatisierung und Shareholder Value für die Menschen spürbar und wirksam? Wo treffen Individuen, ihre Lebensweisen, ihre Fähigkeiten und ihre Interessen, unmittelbar auf die weltweite Logik der Ökonomie, auf Markteinflüsse, Rationalisierung und Managementkonzepte? Das ist nirgends so der Fall wie dort, wo die Menschen arbeiten und wo sie mit Kollegen und Vorgesetzten umgehen: im Büro, in der Werkshalle, beim Projektmeeting, um ein altmodisch klingendes Wort zu verwenden: im Betrieb. Hier ist Gesellschaft „im Normalbetrieb“ zu beobachten – und auch „in the making“, denn wie in einer Gesellschaft gearbeitet und gelebt wird, bestimmt sich ganz wesentlich im Betrieb. Doch gerade was aktuelle Entwicklungen in den Betrieben betrifft, gibt es große weiße Flecken auf der Landkarte der Wissenschaft. Ein Werkstattgespräch des Forschungsverbundes Sozioökonomische Berichterstattung in Deutschland (soeb.de) befasste sich mit der Frage, wie man „Gesellschaft im Betrieb“ besser beobachten, interpretieren und bewerten kann.

Der Forschungsverbund Sozioökonomische Berichterstattung in Deutschland: Arbeit und Lebensweisen arbeitet daran, den Umbruch der deutschen Gesellschaft umfassend zu beobachten und besser zu verstehen. Dabei hat er die „großen“ Veränderungen der Wirtschaftsweise ebenso im Auge wie den Wandel der Lebensweise der Individuen – und vor allem den Wandel des Zusammenspiels zwischen beiden. Eine Serie von Werkstattgesprächen dient der Vorstellung von Ergebnissen des bereits vorliegenden ersten Berichts und der Beratung darüber, wie der zweite Bericht aussehen sollte. Das vierte Werkstattgespräch am 9./10. Mai in Göttingen, organisiert vom Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung – ISF München, zielte auf den Betrieb als „Knotenpunkt“, an dem ökonomische und soziale Entwicklungen „zusammengebunden“ werden – mit weit reichenden Folgen für die Individuen und die gesamte Gesellschaft.

Eine Auswahl der diskutierten Themen: Die Managementkonzepte lösen sich in den letzten Jahren immer schneller ab, ihre Halbwertszeit wird immer kürzer. Was wird daraus in der Praxis? In der Diskussion stellte sich heraus: So sehr es stimmt, dass viel „heiße Luft“ dabei ist – in den letzten zehn Jahren haben sich nicht nur die Großbetriebe, sondern auch kleinere Unternehmen in erheblichem Ausmaß gewandelt. Es müssen Wege und Konzepte entwickelt werden, diese Veränderungen kontinuierlich zu beobachten und in ihrer gesellschaftlichen Tragweite zu bewerten.

Auf der Tagung vorgestellte Untersuchungen zeigen: Die Stabilität und Sicherheit von Beschäftigung nimmt ab; die Löhne, die Beschäftigte bekommen können, sind heute stärker als früher davon abhängig, in welchem Betrieb man beschäftigt ist. Der Geltungsbereich von Flächentarifverträgen verringert sich, der Einfluss der betrieblichen Lohnpolitik nimmt zu. An diesen Entwicklungen sind betriebliche Personal- und Entlohnungspraktiken maßgeblich beteiligt: Die konkreten Entscheidungen über Einstellung, Kündigung und Entlohnung werden zu großen Teilen in den Betrieben getroffen.

Eine Befragung zur Qualität von Arbeit zeigte, dass sichere Beschäftigung und ein existenzsicherndes Einkommen von den Beschäftigten als zentrales Merkmal „guter“ Arbeit angesehen werden. Von den realen Arbeitsverhältnissen der Befragten ergibt sich dabei ein eher düsteres Bild: Die drei Bedingungen Einkommen, Entwicklungsmöglichkeiten in der Arbeit und Abwesenheit starker Belastung, die für die Bewertung als „gute Arbeit“ prägend sind, werden nur bei einer relativ kleinen Minderheit vollständig erfüllt.

Arbeitszeit ist ein wichtiger „Taktgeber“ für gesellschaftliche Zeiteinteilung, und dieser Taktgeber ist im Wandel begriffen: Immer mehr Menschen arbeiten über 40, ja sogar über 48 Stunden in der Woche, teilweise weit länger, als vertraglich vereinbart; andererseits arbeiten immer mehr Menschen Teilzeit, und das mit immer kürzeren Wochenarbeitszeiten. Untersuchungen zeigen, dass es in beiden Gruppen erhebliche Unzufriedenheit gibt: bei den einen, weil die Arbeit zu sehr das „Leben“ beeinträchtigt, bei den anderen, weil sie nicht mehr von ihrer Arbeit leben können. Ein genauerer Blick auf Betriebsebene kann Aufschluss darüber geben, wie diese Polarisierung zustande kommt und wie sich die veränderten Arbeitszeiten auf gesellschaftliche Teilhabe auswirken.

Welche Auswirkungen haben die Wandlungen des Betriebs und im Betrieb auf gesellschaftlicher Ebene? Für Ostdeutschland wurde die These vertreten, dass sich eine ’fragmentierte Entwicklung’ abzeichnet: Es gibt „Leuchttürme“ produktiver Betriebe, die aber kaum auf das allgemeine Beschäftigungs- und Wohlstandsniveau auszustrahlen scheinen – sie ziehen die Region nicht mit. Zugleich gibt es gerade im Zusammenhang der Globalisierung und Informatisierung eine weltweite Renaissance des Fordismus, vor allem in Ländern wie China, wo riesige, hoch arbeitsteilige Weltmarktfabriken entstehen.

Ein Bericht des Deutschlandfunks über das Werkstattgespräch ist als Audiodatei hier anzuhören: http://www.dradio.de/dlf/programmtipp/studiozeit-ks/498063/

Der Forschungsverbund Sozioökonomische Berichterstattung besteht aus dem Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen (SOFI), dem Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF München), dem Internationalen Institut für empirische Sozialökonomie in stadtbergen (INIFES) und dem Thünen-Institut für Regionalforschung in Bollewick. Er wird gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen des Programms „Bessere Daten für eine bessere Politik“ und betreut vom Projektträger in der GSF – Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit. Einen umfangreichen ersten Bericht hat der Verbund 2005 in Buchform vorgelegt. Der zweite Bericht zu Arbeit und Lebensweisen in Deutschland ist für den Spätsommer 2008 vorgesehen. Auf der Internetseite des Verbundes, http://www.soeb.de, werden die Ergebnisse künftig auch für eine breitere Öffentlichkeit aufbereitet – freilich erst im Zuge der Arbeiten am zweiten Bericht.

Für weitere Fragen steht Ihnen der Pressesprecher des Forschungsverbundes, Frank Seiß vom ISF München, Tel. 089/272921-78, frank.seiss@isf-muenchen.de, jederzeit gern zur Verfügung.

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