Mein 18. November – Bestandsaufnahme des Alltagslebens in Westfalen

Volkskundler des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) und das Seminar für Volkskunde/Europäische Ethnologie der Universität Münster hatten die Menschen in Westfalen im vergangenen Jahr aufgerufen, aufzuschreiben, wie sie den 18. November 2005 erlebt haben. So wollten sie mehr über den Alltag der Westfalen herausfinden. Die Resonanz war groß: Bei den Initiatoren von Universität und LWL gingen über 5.100 Zuschriften ein. Ein Buch mit einer Auswahl von 100 Geschichten aus dem Alltag stellten die Initiatoren kurz vor dem 18. November 2006 in Münster vor.

„Das Projekt ist eine bemerkenswerte Bestandsaufnahme des gegenwärtigen Alltagslebens in Westfalen-Lippe“, so Prof. Dr. Ruth-E. Mohrmann, Direktorin des Seminars für Volkskunde/Europäische Ethnologie der Universität Münster und Vorsitzende der Volkskundlichen Kommission beim LWL. „Aus der beeindruckenden Zahl von 5.100 Beiträgen haben wir eine Auswahl getroffen, die sehr unterschiedliche Sichtweisen auf den Alltag und nicht zuletzt auch auf die unterschiedlichen Lebenssituationen der Menschen in Westfalen-Lippe eröffnen“, so Mohrmann weiter. Die Zuschriften sind zwischen einer und 59 Seiten lang, meist sehr gut geschrieben und brauchen einen Vergleich mit den Ergebnissen ähnlicher Aufrufe in den Niederlanden und Skandinavien nicht zu scheuen, urteilt Prof. Mohrmann, die das Projekt vor etwa eineinhalb Jahren initiiert hat.

Bis März war LWL-Volkskundler Dr. Lutz Volmer damit beschäftigt, die Zuschriften zu archivieren. Danach sichtete er die einzelnen Texte näher und wählte gemeinsam mit weiteren Projektmitarbeitern rund 100 Texte für die Veröffentlichung aus. „Es war außerordentlich spannend, die Berichte zu lesen. Die Mehrzahl der Teilnehmer sind geradezu Überzeugungstäter und haben sehr sorgfältig formuliert und oft bemerkenswertes aus ihrem Alltag zu berichten“, erzählt Volmer. „Eine Auswahl zu treffen war gar nicht so einfach, so ist das Buch etwas dicker geworden, als zunächst geplant, denn eigentlich wollten wir nur rund 60 Berichte aufnehmen, schließlich sind es doch 100 geworden“, so Volmer weiter.

Geschrieben haben ganz normale Menschen aller Altersgruppen und mit den unterschiedlichsten Berufen. Ihren Alltag aufgezeichnet haben aber auch prominente Unterstützer, die ihre Beteiligung im Vorfeld zugesagt hatten, wie zum Beispiel der Journalist Manfred Erdenberger. Darüber hinaus haben sich auch viele Bürgermeister aus Westfalen-Lippe, Pastoren, Professoren, oder alteingessenene Adelsfamilien am Projekt beteiligt.

„Die Inhalte der einzelnen Briefe sind natürlich sehr vielschichtig, es gibt aber dennoch Themen, die herausragen“, sagt Volmer. Dazu zählt er besonders markante Punkte, die Zäsuren im Tagesablauf bilden: zum Beispiel das morgendliche Aufstehen, die Fahrt zum Arbeitsplatz, die Ankunft von der Arbeit zu Hause und die festen Mahlzeiten gemeinsam mit der Familie oder der Beginn des abendlichen Fernsehprogramms. „Daneben heben die Schreiber aber immer auch das Besondere im Alltag hervor. Die Menschen sehen ihren 18. November oft vor dem Hintergrund der verflossenen Alltage zuvor, daher arbeiten sie häufig heraus, was Besonderes an dem Tag vorgefallen war und geben uns so auch Rückschlüsse darauf, wie andere Tage aussehen“, sagt Volmer.

Die meisten Einsendungen sind chronologisch aufgebaut und beginnen mit dem morgendlichen Aufstehen: Zum Beispiel haben drei Viertel der Teilnehmer die Uhrzeit mitgeteilt, zu der sie morgens aufstehen. „Dieser Zeitpunkt liegt in Westfalen-Lippe durchschnittlich um 6.50 Uhr“, weiß Volmer. „Das entspricht den Ergebnissen einer repräsentativen Forsa-Umfrage von 2005. So können wir zeigen, dass unsere Daten auch statistisch auswertbar sind.“ Übrigens: Frauen stehen im Durchschnitt drei Minuten eher auf, nämlich schon um 6.47 Uhr, während Männer sich etwas mehr Zeit lassen. Eine wichtige Rolle spielt auch der Wecker, dessen als viel zu laut und unsanft wahrgenommenes Geräusch besonders in den Schilderungen junger Menschen selten fehlt.

In den Beiträgen geht es aber keineswegs allein um solche wirklich alltäglichen Vorkommnisse, die erst in einigen Jahrzehnten für die Volkskundler richtig interessant werden. „Durch viele Beiträge ziehen sich auch soziale Fragen – Themen, die die gesamte Gesellschaft betreffen,“ sagt Volmer. Die Schreiber berichten über Erfahrungen, die sie in ihrem Leben gemacht haben, Themen, die ihnen wichtig sind und die sie auch am 18. November beschäftigt haben. Dort begegnen zum Beispiel Schüler eines Überbrückungskurses an einer Kollegschule, die für ihre berufliche Zukunft keine Perspektive sehen, Akademikern, die trotz Abschluss mit Bestnoten das Gefühl haben, von niemandem gebraucht zu werden, und Arbeitslosen, die befürchten, aufgrund ihres Alters keinen neuen Job mehr zu bekommen.

Es gibt ergreifende Geschichten von Krankheit: geschrieben haben Menschen, die gerade eine Operation hinter sich haben, Menschen, die ihre Angehörigen hingebungsvoll pflegen und etwas über ihre Erfahrungen mit sozialen Einrichtungen mitteilen; von Menschen die gerade einen Angehörigen verloren haben. Aber es gibt auch erfreulichere Geschichten vom 18. November 2005: Berichte über intakte Beziehungen, Geschichten über junge Liebe, über Mütter, für die ihre Kinder jeden Tag aufs neue ein unbezahlbares Geschenk sind und Texte über Erfüllung im christlichen Glauben. Häufig geschrieben haben auch Menschen, die ihren 18. November zu einem ganz besonderen gemacht haben, die ein Kind bekommen haben, die ihre große Liebe endlich geheiratet haben oder „nur“ einen Geburtstag gefeiert haben.

Mein 18. NovemberMenschen schreiben Alltagsgeschichte(n).Herausgegeben von Ruth-E. Mohrmann, Britta Spies und Lutz Volmer.Rückblick, Bd. 4, 2006, 297 Seiten, 42 Abbildungen, 24,90 EUR, ISBN 3-8309-1800-3.

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