Brüder und Schwestern prägen den Charakter weniger als gedacht

Die psychologische Forschung untersucht seit den 1950er Jahren, welchen Unterschied es macht, ob Menschen mit Schwestern oder mit Brüdern aufwachsen.
Foto: Colourbox

Welche Persönlichkeit uns als Erwachsene auszeichnet, hängt nicht damit zusammen, ob wir mit Schwestern oder Brüdern aufwachsen. Zu diesem Ergebnis kommt eine internationale Studie von Forschenden der Universitäten Leipzig und Zürich sowie der Victoria University of Wellington (Neuseeland). Die Ergebnisse wurden jetzt in der renommierten Fachzeitschrift „Psychological Science“ veröffentlicht.

Geschwister spielen in der Kindheit eine zentrale Rolle, und so liegt die Vermutung nahe, dass sie einander langfristig in ihren Persönlichkeiten beeinflussen. Tatsächlich beschäftigt sich die psychologische Forschung schon seit über einem halben Jahrhundert mit der Frage, welchen Unterschied es macht, ob Menschen mit Schwestern oder aber mit Brüdern aufwachsen.

Wissenschaftler:innen untersuchten immer wieder, ob Brüder und Schwestern Einfluss darauf nehmen, wie sehr ihre Geschwister sogenannte „geschlechtskonforme“ Eigenschaften annehmen, also Merkmale, die in der Gesellschaft als „typisch männlich“ oder „typisch weiblich“ gelten. Dazu gibt es vielfältige Annahmen und auch widersprüchliche Befunde, auch weil frühere Studien oft auf einer schmalen und wenig belastbaren Datenbasis beruhten.

Um die bislang uneinheitliche Datenlage zu klären, analysierte nun ein Team von Forschenden Daten von mehr als 80.000 Erwachsenen aus neun Ländern, darunter Deutschland und die USA, aber auch beispielsweise Mexiko und China. Möglich wurde dies durch verschiedene Nationale Langzeitstudien, die systematisch und über Jahrzehnte hinweg Informationen über Personen erfassen, darunter auch ihre Lebensumstände und auf verschiedenen Wegen ermittelte Persönlichkeitsmerkmale. Die statistische Auswertung dieser Daten zeigte über die Ländergrenzen hinweg, dass Persönlichkeitseigenschaften wie zum Beispiel Risikobereitschaft, emotionale Stabilität, Gewissenhaftigkeit und Geduld nicht systematisch mit dem Geschlecht der Geschwister zusammenhängen.

„Unsere Ergebnisse widerlegen die Idee, dass das Aufwachsen mit Brüdern oder Schwestern dazu führt, dass wir langfristig bestimmte Persönlichkeitseigenschaften entwickeln, die in einer Gesellschaft als ‚typisch weiblich‘ oder ‚typisch männlich‘ gelten,“ erläutert Dr. Julia Rohrer von der Universität Leipzig, eine der Autorinnen des Artikels. „Insgesamt legt die aktuelle Studienlage nahe, dass Geschwister einen überraschend geringen Einfluss auf die Persönlichkeit im Erwachsenenalter haben. Beispielsweise zeigen frühere Studien unserer Arbeitsgruppe hier in Leipzig, dass auch die Geschwisterposition – also ob man zum Beispiel Erstgeborene:r oder Sandwichkind ist – keine große Rolle für die Persönlichkeit spielt.“

Allerdings bedeuten die Ergebnisse der neuen Studie nicht, dass das Geschwistergeschlecht gar keine Rolle spielt für den langfristigen Lebensweg. Ökonomische Studien haben gezeigt, dass in den USA und Dänemark Frauen mit Brüdern geringere Erwerbseinkommen erzielen. „Hier gibt es anscheinend also durchaus interessante Dynamiken, die mit dem Geschlecht zusammenhängen“, so Rohrer. „Aber die Persönlichkeit ist wohl kein Teil der Erklärung solcher Effekte.“

Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Dr. Julia Rohrer
Universität Leipzig
Wilhelm-Wundt-Institut für Psychologie der Universität Leipzig
E-Mail: julia.rohrer@uni-leipzig.de

Originalpublikation:

No Evidence that Siblings’ Gender Affects Personality Across Nine Countries, https://doi.org/10.1177/09567976221094630

Media Contact

Nina Vogt Stabsstelle Universitätskommunikation / Medienredaktion

Alle Nachrichten aus der Kategorie: Gesellschaftswissenschaften

Der neueste Stand empirischer und theoretischer Erkenntnisse über Struktur und Funktion sozialer Verflechtungen von Institutionen und Systemen als auch deren Wechselwirkung mit den Verhaltensprozessen einzelner Individuen.

Der innovations-report bietet Ihnen hierzu interessante Berichte und Artikel, unter anderem zu den Teilbereichen: Demografische Entwicklung, Familie und Beruf, Altersforschung, Konfliktforschung, Generationsstudien und kriminologische Forschung.

Zurück zur Startseite

Kommentare (0)

Schreiben Sie einen Kommentar

Neueste Beiträge

Größte bisher bekannte magnetische Anisotropie eines Moleküls gemessen

An der Berliner Synchrotronstrahlungsquelle BESSY II ist es gelungen, die größte magnetische Anisotropie eines einzelnen Moleküls zu bestimmen, die jemals experimentell gemessen wurde. Je größer diese Anisotropie ist, desto besser…

Tsunami-Frühwarnsystem im Indischen Ozean

20 Jahre nach der Tsunami-Katastrophe… Dank des unter Federführung des GFZ von 2005 bis 2008 entwickelten Frühwarnsystems GITEWS ist heute nicht nur der Indische Ozean besser auf solche Naturgefahren vorbereitet….

Resistente Bakterien in der Ostsee

Greifswalder Publikation in npj Clean Water. Ein Forschungsteam des Helmholtz-Instituts für One Health (HIOH) hat die Verbreitung und Eigenschaften von antibiotikaresistenten Bakterien in der Ostsee untersucht. Die Ergebnisse ihrer Arbeit…