Migration ist eine Chance

Seit den 1980er Jahren haben Deutschland und Israel Migranten aus der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten aufgenommen. „Während die Mehrheit der Zuwanderer ihr Leben in der neuen Heimat meistert, haben sie dennoch mit vielfältigen Problemen zu kämpfen“, sagt Prof. Dr. Rainer K. Silbereisen von der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Dies zeige sich etwa beim Erreichen von Bildungsabschlüssen oder der Teilhabe an der Zivilgesellschaft, so der Entwicklungspsychologe.

Unter welchen persönlichen Voraussetzungen und gesellschaftlichen Bedingungen die Integration von Migranten gelingt, das hat der deutsch-israelische Forschungsverbund „Migration und gesellschaftliche Integration“ untersucht. Das 2006 ins Leben gerufene Konsortium hat etwa 17.000 Personen in Deutschland und Israel befragt und die Situation junger Aussiedler und jüdischer Zuwanderer im Vergleich zu ethnischen Minderheiten und der einheimischen Bevölkerung analysiert. In dem mit rund 3,5 Millionen Euro vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Verbund sind Psychologen, Soziologen, Erziehungswissenschaftler und Sprachwissenschaftler von 11 deutschen und israelischen Universitäten beteiligt.

Heute (24. März) hat der Forschungsverbund, der von Prof. Silbereisen geleitet wird, die Ergebnisse seiner vierjährigen Arbeit vorgelegt. Demnach kann Migration eine Chance für eine positive Entwicklung junger Menschen sein. Es zeigte sich, dass manche Jugendliche, die in der ehemaligen Sowjetunion gewaltbereit waren, dieses Verhalten nach der Migration nach Deutschland oder Israel aufgegeben haben. Zwar ist ein radikaler Wechsel des Umfelds als Chance auf einen Wechsel der Entwicklungsperspektive bereits aus anderen Zusammenhängen bekannt. Für die besondere Situation der Diaspora-Migranten wurde dies jetzt jedoch erstmals gezeigt.

Eine weitere zentrale Fragestellung war die psychosoziale Entwicklung während wichtiger biografischer Übergänge von der Kindheit bis ins frühe Erwachsenenalter. „Diese Übergänge erfahren zu haben, bedeutet einen Gewinn an sozialer Motivation und Kompetenz sowohl für Migranten als auch Einheimische“, sagt Prof. Silbereisen. Allerdings würden bereits bestehende Unterschiede zwischen Migranten und Einheimischen durch diese Erfahrungen nicht verringert.

Schlechtere Leistungen und berufliche Aussichten von Migranten verglichen mit Einheimischen erklären sich, so das deutsch-israelische Forscherkonsortium, vor allem durch Unterschiede im sozialen Status: Jugendliche Migranten streben demnach genauso wie ihre einheimischen Altersgenossen nach hohen beruflichen Zielen.

Für die soziale Identität von Migranten ist es außerdem wichtig, die jeweilige Landessprache zu beherrschen. Dieser Effekt ist in Israel jedoch stärker ausgeprägt als in Deutschland. Während sich Kinder russisch-sprachiger Eltern in Israel selbst eine rein israelische Identität zusprachen, bezeichneten sich Kinder in Deutschland eher als bikulturell russisch/deutsch.

Ein weiterer Komplex der Untersuchung hinterfragte das Verhältnis der Migranten zu gesellschaftlichen Werten, wie Leistung, Konformität oder Selbstbestimmung. Es zeigte sich, dass Werte aus der alten und der neuen Heimat bei Migranten je nach Lebensbereich unterschiedlich handlungsleitend sind. Jugendliche Migranten leben im Vergleich zu einheimischen Altersgenossen in einem ständigen Spannungsfeld teilweise divergierender Wertesysteme. Dies kann im Extremfall zu einem Zerfall ihres Wertesystems und zu geringer Lebenszufriedenheit führen.

„Mit unseren Ergebnissen liegen erstmals umfassende Erkenntnisse zur Situation verschiedener Migrantengruppen in Deutschland und Israel vor“, fasst der Leiter des Konsortiums Silbereisen zusammen. Die Ergebnisse belegten, dass die Mehrheit der Zuwanderer und ethnischen Minderheiten sich in der Gesellschaft gut zurechtfindet. Herausforderungen für die Zukunft bestehen vor allem, so der Forschungsverbund, in der unterschiedlichen Verteilung an familiären Ressourcen in Form von Bildung, ökonomischer Lage und sozialen Kontakten zwischen den ethnischen Gruppen, die teils zu einer Ungleichstellung beitragen.

Eine detaillierte Zusammenfassung der Forschungsergebnisse ist unter: http://www.uni-jena.de/unijenamedia/FSUJena_Silbereisen_Zusammenfassung.pdf abrufbar. Zusätzliche Informationen sind zu finden unter: http://www.migration.uni-jena.de

Kontakt:
Prof. Dr. Rainer K. Silbereisen, Dr. Elke Schröder
Institut für Psychologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena
Am Steiger 3 / Haus 1, 07743 Jena
Tel.: 03641 / 945201
E-Mail: rainer.silbereisen[at]uni-jena.de

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Dr. Ute Schönfelder idw

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