Mobilität und gesellschaftlicher Zusammenhalt im mehrsprachigen Europa

Knüpft mit dem neuen europäischen Forschungsnetzwerk MIME an das 2014 erfolgreich abgeschlossene ESF-Projekt RECODE an: der Augsburger Politikwissenschaftler Prof. Dr. Peter A. Kraus Foto: privat

Wie kann einerseits die Mobilität der EU-Bürgerinnen und Bürger auf ihrem mehrsprachigen Kontinent gefördert und andererseits zugleich der soziale Zusammenhalt in den einzelnen europäischen Gesellschaften gestärkt werden?

Dieser Frage widmet sich das Projekt „Mobilität und Inklusion im mehrsprachigen Europa“ (MIME) mit dem Auftrag, Maßnahmen und Strategien zu entwickeln, die eine Vereinbarkeit der beiden Ziele „Mobilität“ und „Inklusion“ ermöglichen und befördern sollen. MIME wird von der Europäischen Kommission im Rahmen des 7. Forschungsrahmenprogramms mit knapp fünf Millionen Euro finanziert.

Neben der Augsburger Professur für Vergleichende Politikwissenschaft (Prof. Dr. Peter A. Kraus) sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zwanzig weiterer Universitäten aus 16 europäischen Ländern am MIME-Konsortium beteiligt. Die Ergebnisse der einzelnen Fall- und konzeptionellen Studien sollen 2019 vorliegen und veröffentlicht werden.

Mehr Mobilität der Bürgerinnen und Bürger innerhalb der EU und mehr Inklusion – sozialer Zusammenhalt also – innerhalb der einzelnen Gesellschaften der EU-Länder: beides sind wichtige Ziele der Europäischen Gemeinschaft, beide Ziele parallel zueinander und gleichzeitig erreichen zu wollen, stellt aber nicht nur die politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger in den EU-Institutionen vor erhebliche Herausforderungen, sondern auch die Menschen in den europäischen Gesellschaften selbst.

Mobilität und innergesellschaftlicher Zusammenhalt: ein unlösbarer Widerspruch?

Höhere Mobilität und stärkere Inklusion schließen sich zwar nicht grundsätzlich gegenseitig aus, sie sind jedoch auch nicht ohne Weiteres miteinander vereinbar. Denn während mehr Mobiltät u. a. mit europaweit geltenden Standards erreicht werden kann, sind die Bedingungen des sozialen Zusammenhalts einer Gesellschaft von sehr unterschiedlichen und abgrenzenden sprachlichen und kulturellen Kontexten geprägt, die des Ausgleichs bedürfen.

Veränderbarkeit der Ausgleichsmechanismen

Die am MIME-Konsortium beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler teilen programmatisch die gemeinsame Überzeugung, dass die bislang in der EU existierenden Verfahren eines solchen Ausgleichs nicht als unveränderlich gegeben hingenommen werden müssen; vielmehr seien sie sowohl in symbolischer als auch in materieller bzw. finanzieller Hinsicht modifizierbar, und zwar durch sorgsam konzipierte Praktiken öffentlicher Politik und durch die intelligente Nutzung zivilgesellschaftlicher Binnendynamiken.

Ausgeprägte Interdisziplinarität und dezidierte Beratungsorientierung

Regelmäßige Koordinationstreffen werden dazu dienen, die unterschiedlichen Perspektiven der insgesamt zehn Disziplinen, die im MIME-Konsortium vertreten sind, zusammenzubringen. Neben der beratungsorientierten Ausrichtung war diese ausgeprägte Interdisziplinarität ein ausschlaggebender Faktor, weshalb sich das MIME-Projekt bei der Bewerbung um die Fördermittel der Europäischen Kommission gegen zwanzig Konkurrenten durchsetzen konnte.

„Unser interdisziplinärer Ansatz macht es möglich, die Bedingungen für eine hohe Mobilität und eine gelingende Inklusion der Menschen im mehrsprachigen Europa umfassend zu bestimmen“, erläutert Kraus.

Die dezidierte Beratungsorientierung der beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wiederum stelle für die politische Umsetzung der MIME-Forschungsergebnisse substantielle Vorschläge und Empfehlungen in Aussicht. Letztere sollen ein breites Themen- und Fragenspektrum abdecken, das von einem tieferen Verständnis der Funktionsweise von Institutionen in mehrsprachigen Kontexten über Nachbarschaftsbeziehungen in multikulturellen Städten bis hin zu Aspekten des Spracherwerbs und der Analyse von Kommunikationskanälen im sozialen und schulischen Umfeld reicht.

Kraus: „Dass wir für alle relevanten Aspekte und Probleme, die unser Forschungsauftrag umfasst, nicht nur Politikoptionen vorschlagen, sondern auch die soziale Relevanz unserer Vorschläge sicherstellen, gehört zum Kern des MIME-Konzepts.“

Von Augsburg aus koordiniert: der MIME-Arbeitsbereich „Society“

Kraus ist „Interdisciplinarity Manager“ des Gesamtprojekts und Leiter des MIME-Arbeitsbereichs „Society“. Er kooperiert in diesem Arbeitsbereich mit Amsterdamer und Brüsseler Kolleginnen und Kollegen aus den Disziplinen Soziologie, Politikwissenschaft und Geographie, um zu analysieren, wie die Sprachenvielfalt in einer Gesellschaft von den Menschen in ihrem Alltag wahrgenommen wird und inwiefern diese Vielfalt für die Konstruktion individueller und kollektiver Identitäten eine Rolle spielt. Kraus: „Es geht uns darum herauszufinden, welche Rolle die Mehrsprachigkeit in europäischen Großstädten für die Identitätsbildung ihrer Bewohnerinnen und Bewohner spielt bzw. spielen kann.“

Augsburger Teilprojekt: Identitätsbildung unter den Bedingungen sprachlicher Vielfalt

In seinem eigenen Augsburger MIME-Teilprojekt untersucht Kraus zusammen mit seinen Mitarbeiterinnen Melanie Frank und Malika Bashirova speziell, wie neue und beständige Formen von Identitäten unter den Bedingungen sprachlicher Vielfalt gebildet werden und wie sie sich im gesellschaftlichen und politischen Umgang mit der Mehrsprachigkeit widerspiegeln. Illustriert wird die theoretische Arbeit anhand der Beispiele Rigas und Barcelonas, zweier Städte, in denen das gesellschaftliche Leben von einer komplexen kulturellen und sprachlichen Vielfalt geprägt ist.

Von RECODE zu MIME

Kraus kann hier an seine bisherigen umfangreichen Forschungen zum Phänomen der komplexen Vielfalt in europäischen Gesellschaften anknüpfen: Unter seiner Federführung hatte sich ein Forschungsteam im Rahmen des von der European Science Foundation (ESF) geförderten und 2014 abgeschlossenen Projekts RECODE (Responding to Complex Diversity in Europe and Canada) intensiv mit den Bedingungen und den politischen Herausforderungen sozio-kultureller Vielfalt auseinandergesetzt.

Vernetzte sozialwissenschaftliche Forschung zur Sprachenvielfalt

Im Kontext seiner abgeschlossenen und laufenden Forschungen hat Kraus zusammen mit seinen beiden MIME-Mitarbeiterinnen und mit seinem ehemaligen RECODE-Mitarbeiter Ivan Greguric inzwischen einen Arbeitskreis „Sprache und Politik“ ins Leben gerufen. Regelmäßige Treffen, sowie thematisch einschlägige Workshops und Gastvorträge auswärtiger Fachleute sollen die Universität Augsburg zu einem Kristallisationspunkt für eine vernetzte sozialwissenschaftliche Forschung zur Sprachenvielfalt und ihren sozialen und politischen Manifestationen in den heutigen Gesellschaften machen.

Ansprechpartner:
Prof. Dr. Peter A. Kraus
Vergleichende Politikwissenschaft/Institut für Kanada-Studien
Universität Augsburg
D-86135 Augsburg
Telefon +49(0)821-598-5263
peter.kraus@phil.uni-augsburg.de

http://www.mime-project.org

Media Contact

Klaus P. Prem idw - Informationsdienst Wissenschaft

Alle Nachrichten aus der Kategorie: Gesellschaftswissenschaften

Der neueste Stand empirischer und theoretischer Erkenntnisse über Struktur und Funktion sozialer Verflechtungen von Institutionen und Systemen als auch deren Wechselwirkung mit den Verhaltensprozessen einzelner Individuen.

Der innovations-report bietet Ihnen hierzu interessante Berichte und Artikel, unter anderem zu den Teilbereichen: Demografische Entwicklung, Familie und Beruf, Altersforschung, Konfliktforschung, Generationsstudien und kriminologische Forschung.

Zurück zur Startseite

Kommentare (0)

Schreiben Sie einen Kommentar

Neueste Beiträge

Sensoren für „Ladezustand“ biologischer Zellen

Ein Team um den Pflanzenbiotechnologen Prof. Dr. Markus Schwarzländer von der Universität Münster und den Biochemiker Prof. Dr. Bruce Morgan von der Universität des Saarlandes hat Biosensoren entwickelt, mit denen…

3D-Tumormodelle für Bauchspeicheldrüsenkrebsforschung an der Universität Halle

Organoide, Innovation und Hoffnung

Transformation der Therapie von Bauchspeicheldrüsenkrebs. Bauchspeicheldrüsenkrebs (Pankreaskarzinom) bleibt eine der schwierigsten Krebsarten, die es zu behandeln gilt, was weltweite Bemühungen zur Erforschung neuer therapeutischer Ansätze anspornt. Eine solche bahnbrechende Initiative…

Leuchtende Zellkerne geben Schlüsselgene preis

Bonner Forscher zeigen, wie Gene, die für Krankheiten relevant sind, leichter identifiziert werden können. Die Identifizierung von Genen, die an der Entstehung von Krankheiten beteiligt sind, ist eine der großen…