Sachsen-Anhalt leidet unter „Abwanderungskultur“
Aus dem ländlichen Raum Sachsen-Anhalts wandern überdurchschnittlich viele Frauen zwischen 18 und 25 Jahren in die Großstädte oder in andere Regionen ab. Diese Entwicklung ist unabhängig von der wirtschaftlichen Lage und hat dazu geführt, dass in manchen Landkreisen auf hundert Männer nur noch 80 Frauen kommen.
In vielen kleinen ländlichen Gemeinden ist der „Frauenmangel“ sogar noch stärker ausgeprägt. „In keiner anderen Region Europas ist das zahlenmäßige Ungleichgewicht zwischen jungen Frauen und Männern so groß wie in Ostdeutschland, Sachsen-Anhalt ist dabei keine Ausnahme“, sagt Tim Leibert vom Leibniz-Institut für Länderkunde (IfL) in Leipzig.
Das Bundesland stehe wegen einer schrumpfenden Bevölkerung, einer Überalterung sowie einer anhaltenden Abwanderung vor massiven Problemen. Dass viele junge Leute wegziehen, führen er und seine IfL-Kollegin Dr. Karin Wiest zu einem guten Teil auf eine hier besonders stark ausgeprägte „Abwanderungskultur“ zurück.
„Trotz der aktuell recht günstigen Lage auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt glauben viele Jugendliche, dass es im ländlichen Raum Sachsen-Anhalts schwierig sei, einen Job zu finden, seinen Lebensunterhalt zu verdienen und erfolgreich zu sein“, erklärt Karin Wiest. In der Heimat zu bleiben sei für viele mit der Befürchtung eines sozialen Abstiegs verbunden.
Junge Frauen schätzen die wirtschaftlichen Aussichten besonders pessimistisch ein. Viele kehren ihrer Heimat dauerhaft den Rücken. Das unterscheidet nach den Erkenntnissen der Leipziger Wissenschaftler den ländlichen Raum Sachsen-Anhalts von anderen Abwanderungsregionen in Deutschland und Europa, wo ein Teil der Frauen in der Familiengründungsphase wieder in die Heimat zurückkehrt – oder die Abwanderungsverluste durch höhere Geburtenraten oder Zuwanderung teilweise ausgeglichen werden.
Wie die Forscher in Befragungen ermitteln konnten, bereiten in Sachsen-Anhalt Eltern ihre Kinder oft schon lange vor dem Schulabschluss auf eine Abwanderung vor. Auch hier zeige sich ein ausgeprägtes Misstrauen in Bezug auf die Zukunftsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Sachsen-Anhalt, das seine Wurzeln in der Massenarbeitslosigkeit und den blockierten Arbeitsmärkten für Berufseinsteiger hat.
Beide Phänomene waren bis in die jüngste Vergangenheit typisch für Sachsen-Anhalt. Dass mehr junge Frauen als Männer abwandern, hat auch damit zu tun, dass Frauen sich überwiegend für Berufe im öffentlichen Dienst und im Dienstleistungssektor entscheiden. Doch gerade in diesem Segment ist der Arbeits- und Ausbildungsmarkt im ländlichen Raum begrenzt. Junge Männer orientieren sich in ihrer Berufswahl dagegen stärker an der lokalen Wirtschaftsstruktur.
Im Forschungsprojekt „WOMEN” (Realizing a Transnational Strategy against the brain-drain of well-educated young women) entwickeln Wissenschaftler aus Deutschland, Österreich, Polen, Ungarn und Slowenien gemeinsam mit Vertretern aus Politik und Praxis konkrete Maßnahmen, die eine Abwanderung junger Frauen aus den ländlichen Räumen Europas verhindern helfen können.
Derzeit arbeitet eine internationales Projektteam unter Leitung der Stabsstelle Demografie im Ministerium für Landesentwicklung und Verkehr des Landes Sachsen-Anhalt an der Umsetzung von vier Pilotinitiativen, mit denen die beruflichen Perspektiven junger Frauen im ländlichen Raum verbessert werden sollen. Für die wissenschaftliche Begleitung ist das Leibniz-Institut für Länderkunde zuständig.
Das Projekt „WOMEN” ist im Juli 2012 gestartet und läuft bis Dezember 2014. Es knüpft an das im Mai 2012 abgeschlossene Forschungsprojekt „SEMIGRA“ zur Abwanderung junger Frauen und unausgewogenen Geschlechterproportion in ländlichen Regionen an, in dessen Rahmen unter der Leitung des IfL umfangreiche Analysen in Projektregionen in Deutschland, Schweden, Finnland und Ungarn durchgeführt und genderorientierte Handlungsstrategien diskutiert wurden.
Weitere Informationen:
Dr. Karin Wiest
Leibniz-Institut für Länderkunde
Tel.: 089 55 26 59 74
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