Sterblichkeit durch Rauchen für ostdeutsche Frauen bald höher als für westdeutsche
Die Zahl ostdeutscher Frauen, die an den Folgen des Rauchens sterben, könnte unerwartet und dramatisch in die Höhe schnellen, wie Berechnungen des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung (MPIDR) in Rostock bis zum Jahr 2036 zeigen.
Demnach klettert die Sterblichkeit (also die Wahrscheinlichkeiten, in einem bestimmten Alter zu sterben) allein durch Lungenkrebs in den nächsten Jahrzehnten für ostdeutsche Frauen im Alter ab 50 Jahren kontinuierlich in die Höhe. Lungenkrebs gilt als ein starkes Indiz für Folgen des Rauchens.
„Auch alle anderen Raucherkrankheiten werden häufiger, etwa Arterienverkalkung, Herzinfarkte oder weitere Krebsarten“, sagt MPIDR-Direktor Mikko Myrskylä, der die Forschungsergebnisse jetzt im führenden demografischen Fachjournal „Demography“ veröffentlichte.
Gleichzeitig prognostizieren die MPIDR-Forscher, dass sowohl die Sterblichkeit allein durch Lungenkrebs als auch die durch Rauchen allgemein ausgelöste Sterblichkeit für westdeutsche Frauen im Alter 50+ dauerhaft sinken wird. Denn ganz anders als im Osten sinkt der Tabakkonsum im Westen kontinuierlich.
Die allgemeine Sterblichkeit der Frauen von 50 bis 69 liegt momentan im Osten unter der im Westen. Die MPIDR-Demografen prognostizieren jedoch, dass die allgemeinen Sterberaten im Osten die im Westen in 20 Jahren (2036) wegen des sich ändernden Tabakkonsums um fast zehn Prozent übersteigen werden.
Allein dieser Überschuss von fast zehn Prozent in der allgemeinen Sterblichkeit bedeutet 800 Todesfälle durch Rauchen unter den 50 bis 69-jährigen Frauen im Osten.
„Die Politik ermöglicht den Zuwachs an Todesfällen“
„Die Politik ermöglicht diesen Zuwachs an Todesfällen in Ostdeutschland“, sagt Mikko Myrskylä. Eine aggressivere Anti-Raucher-Politik könnte den starken Anstieg des Tabakkonsums unter ostdeutschen Frauen eindämmen, glaubt der Demograf. So ließen sich Todesfälle verhindern.
„Deutschland ist bei politischen Maßnahmen gegen das Rauchen laxer als andere EU-Länder“, bemängelt Demograf Myrskylä. „Als einziges Land erlaubt es zum Beispiel uneingeschränkt Tabakaußenwerbung, etwa an Plakatwänden.“ Rauchen sei in Deutschland generell sehr viel breiter akzeptiert als in anderen EU-Staaten.
„Die neuen Bundesländer werden gerade zum abschreckenden Beispiel dafür, was passiert, wenn die Politik die Tabakprävention vernachlässigt, und ignoriert, wie sich die Verhaltensnormen verändern“, sagt Myrskylä.
Tödlicher Trend verborgen hinter Gewinnen bei der Lebenserwartung
MPIDR-Forscher Myrskylä befürchtet, dass die Zunahme des Tabakkonsums im Osten unbemerkt bleiben und keinerlei Gegenmaßnahmen zur Folge haben könnte, da die tödlichen Konsequenzen an den Sterblichkeitsdaten bisher kaum ablesbar sind. Die positive Entwicklung der weiblichen Lebenserwartung im Osten gilt bisher vielmehr als Erfolgsgeschichte.
In der DDR war die Lebenserwartung deutlich niedriger als in der Bundesrepublik. Die Sterblichkeit war entsprechend im Osten höher als im Westen. Nach der Wiedervereinigung schloss sich die Ost-West-Schere jedoch rasant.
Besonders schnell holten die ostdeutschen Frauen auf. Die Altersgruppe von 50 bis 69 hat inzwischen sogar eine niedrigere Sterblichkeit als in den alten Bundesländern. Doch das Ost-West-Verhältnis wird sich laut MPIDR-Berechnungen wieder umkehren, da sich das Rauchverhalten in verschiedene Richtungen entwickelt.
„Es dauert 15 bis 25 Jahre, bis eine Steigerung beim Rauchen in den Sterblichkeitsdaten sichtbar wird“, sagt Myrskylä. „Wir müssen heute etwas unternehmen, um unnötige Todesfälle in der Zukunft zu verhindern.“
Boom der Todesfälle verzögert aber erwartbar
Die MPIDR-Prognosen basieren auf Projektionen des Tabakkonsums, die sich aus Daten der Forschungserhebung „Sozio-oekonomisches Panel“ (SOEP) ergeben. Die Wissenschaftler berechneten den Tabakonsum als die Summe an Jahren, die eine Frau bis zum Alter von 40 Jahren insgesamt geraucht hat.
Am stärksten wirken sich die Veränderungen für die 50 bis 54-jährigen Frauen aus, wie an ihrem Tabakkonsum und den Todesfällen durch Lungenkrebs ablesbar ist (siehe Grafik letzte Seite): Im Westen haben die Todesfälle aktuell ein Maximum von 32 Toten pro 100.000 Frauen erreicht, deutlich vor dem Osten mit 26 Fällen. Eine Folge des Rauchens: Für diese Frauen, die 1980-84 Teenager waren (14 bis 18 Jahre alt), lag der durchschnittliche Tabakkonsum im Westen (10,6 Jahre) noch klar über dem im Osten (8,8 Jahre).
Nach der Wiedervereinigung wendet sich das Blatt. Der Tabakkonsum der Frauen, die in den Nachwendejahren (1990-94) Teenager waren, steigt im Osten auf 9,6 Jahre und überholt den im Westen, der auf 9,3 Jahre gefallen ist. Das wird sich bei den Todesfällen bemerkbar machen: Wenn diese Frauen in zehn Jahren zwischen 50 und 54 sein werden, werden die Sterberaten für Lungenkrebs im Osten die im Westen eingeholt haben (29 bzw. 28 Tote pro 100.000 Frauen).
Völlig umgekehrt wird sich die Situation in zwanzig Jahren haben, wenn unter den dann 50 bis 54-Jährigen im Westen nur noch 21 von 100.000 Frauen an Folgen des Rauchens sterben werden, während die Rate im Osten um mehr als die Hälfte darüber liegen wird (31 Todesfälle pro 100.000 Frauen).
Diese Frauen waren zu Beginn des neuen Jahrtausends (2000-2004) Jugendliche. Wenn der Tabakkonsums wie prognostiziert weiter steigt, werden sie im Westen bis zum 40. Lebensjahr nur noch sieben Jahre ihrer Lebenszeit Raucherinnen gewesen sein, im Osten aber inzwischen 10,6 Jahre – so viel wie der ehemalige Maximalwert im Westen.
In Deutschland mangelt es an leicht verfügbaren Daten über Rauchgewohnheiten, die als Frühwarnsystem dienen könnten. Raucherquoten gegliedert nach Alter, Geschlecht und Region sind kaum verfügbar und lückenhaft.
Die MPIDR-Forscher berechneten deshalb als Maß für den Tabakkonsum die Lebenszeit, die insgesamt bis zum Alter von 40 Jahren geraucht wurde, aus Daten des “Sozio-oekonomischen Panels” (SOEP). Diese Forschungserhebung ist nur Wissenschaftlern, nicht aber Öffentklichkeit und Politik zugänglich.
Wenn sich diese Maßzahl für den Tabakkonsum ändert, lässt sich daraus nicht eindeutig auf die Art der Verhaltensänderung schließen. Steigt die als Raucher verbrachte durchschnittliche Lebenszeit, kann dies daran liegen, dass mehr Frauen rauchen, oder daran, dass sie für längere Zeit als früher rauchen (sie beginnen früher im Leben oder hören später auf) – oder beides.
Die Forscher nutzten Daten über Todesfälle durch Lungenkrebs aus der Todesursachenstatistik der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und vom Statistischen Bundesamt. Alle Werte ab 2013 sind prognostiziert.
Über das MPIDR
Das Max-Planck-Institut für demografische Forschung (MPIDR) in Rostock untersucht die Struktur und Dynamik von Populationen: von politikrelevanten Themen des demografischen Wandels wie Alterung, Geburtenverhalten oder der Verteilung der Arbeitszeit über den Lebenslauf bis hin zu evolutionsbiologischen und medizinischen Aspekten der Alterung. Das MPIDR ist eine der größten demografischen Forschungseinrichtungen in Europa und zählt zu den internationalen Spitzeninstituten in dieser Disziplin. Es gehört zur Max-Planck-Gesellschaft, einer der weltweit renommiertesten Forschungsgemeinschaften.
Ansprechpartner
Mikko Myrskylä – MPIDR-Autor des Artikels (spricht Englisch)
TELEFON +49 381 2081 – 118
E-MAIL sekmyrskyla@demogr.mpg.de
Silvia Leek – MPIDR Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
TELEFON +49 381 2081 – 143
E-MAIL presse@demogr.mpg.de
Diese Pressemitteilung, die Grafik in hoher Auflösung und Daten zu Sterberaten und Intensität des Rauchens finden Sie unter http://www.demogr.mpg.de/go/rauchen-ost-west
Original-Veröffentlichung: Tobias Vogt, Alyson van Raalte, Pavel Grigoriev, Mikko Myrskylä: The German East-West Mortality Difference: Two Cross-Overs Driven by Smoking, Demography, DOI 10.1007/s13524-017-0577-z
http://10.1007/s13524-017-0577-z (Originalveröffentlichung)
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