Weniger Verkehr durch Informations- und Kommunikationstechnologien?

Geographen der Universität Stuttgart dämpfen Erwartungen in E-Commerce

Täglich werden in der Region Stuttgart rund 6,6 Millionen Wege mit dem Auto, mit Bussen und Bahnen zurückgelegt. Sollte sich die bisherige Entwicklung fortsetzen, wird diese Zahl bis zum Jahr 2010 den Wert von 7 Millionen überschritten haben. Damit würde die Zahl der Verkehrswege in diesem Zeitraum etwa doppelt so stark ansteigen wie die Einwohner- oder Beschäftigtenzahl; der Energieverbrauch für den Verkehrssektor würde sich um rund 15 Prozent gegenüber dem Wert von 1995 erhöhen.
Wie diese Entwicklung beeinflusst und eine umweltschonende Mobilität in Ballungsräumen erreicht werden kann, darüber soll das Projekt „mobilist“ am Beispiel der Region Stuttgart Aufschluss geben. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat dafür bis Ende 2002 rund 25 Millionen Mark bereitgestellt. An dem interdisziplinären Projekt beteiligen sich zahlreiche Einrichtungen (insgesamt 44 Partner) aus Wirtschaft, Politik und Forschung.
Erste Ergebnisse eines Teilprojekts, bei dem mögliche Verkehrsentlastungen durch E-Commerce in der Region Stuttgart untersucht werden, hat Barbara Lenz vom Geographischen Institut der Universität Stuttgart jetzt beim 53. Deutschen Geographentag in Leipzig vorgestellt. Danach dürfte die verkehrsmindernde Wirkung des elektronischen Handels deutlich geringer sein, als von einigen Apologeten der New Economy bisher angenommen wurde.
Angesichts der wachsenden Belastung der städtischen Zentren durch den Verkehr war in den vergangenen Jahren vor allem die politische Hoffnung gewachsen, dass Informations- und Kommunikationstechnologien dieser Entwicklung entgegensteuern könnten. Telearbeit, Teleshopping, Telelearning, Telekonferenzen – all dies, so die Erwartung vieler, würde die Überwindung physischer Distanzen zunehmend überflüssig machen; intelligente Leitsysteme würden die Verkehrsströme effizient lenken. Manche Prognosen sahen gar den völligen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft durch moderne I&K-Technologien voraus. Das Schlagwort des „death of distance“, so der Titel eines Buches von Frances Cairncross über die Revolution der Telekommunikationsindustrie, machte die Runde.
Erst in jüngerer Zeit hat man begonnen, die Wechselwirkungen zwischen Telekommunikation und Verkehr systematisch-empirisch zu untersuchen. Dabei zeichnet sich ab, dass es sich bei vielen der bislang entworfenen Szenarien eher um theoretisch-spekulative Annahmen als um realistische Einschätzungen handelte. Inzwischen wächst die Zahl derer, die frühere Prognosen als viel zu optimistisch ansehen.
So konnte eine Arbeitsgruppe unter der Leitung von Dr. Barbara Lenz jetzt für die Region Stuttgart nachweisen, dass elektronischer Handel – ein Aspekt möglicher Verkehrsentlastung durch I&K-Technologien – das Verkehrsverhalten bislang nur wenig verändert hat. Die Ergebnisse basieren auf einer repräsentativen telefonischen Befragung und einer Online-Befragung von jeweils rund fünfhundert Personen. Ein in der Untersuchung abgeleitetes Mittelwertszenario kommt auf eine mögliche Fahrtenersparnis für den Gesamtverkehr von etwa zwei Prozent.
Der größte Rückgang würde dabei allerdings nicht im motorisierten Individualverkehr, sondern im Öffentlichen Verkehr eintreten. Als mögliche Bandbreite errechneten die Stuttgarter Wissenschaftler ein Einsparpotenzial an Einkaufswegen durch E-Commerce zwischen 0,5 und 5,4 Prozent. Das Einsparpotenzial für die Fahrleistungen (Wege x Entfernung) dürfte den Ergebnissen der Studie zufolge zwischen 0,7 und knapp sieben Prozent betragen. Insgesamt werden an einem Werktag in der Region Stuttgart bei Einkaufsfahrten 7,6 Millionen Kilometer zurückgelegt. Eine merkliche Verkehrsentlastung ist demnach kaum zu erwarten.
Dennoch will Barbara Lenz nicht ganz ausschließen, dass sich I&K-Technologien in Zukunft stärker auf den Verkehr auswirken könnten. Denn wie verschiedene Untersuchungen gezeigt haben, besteht grundsätzlich ein Potenzial, physischen Verkehr zum Arbeitsplatz durch Telearbeit oder zum Einkaufen durch E-Commerce zu ersetzen. Die Geschwindigkeit der Technikentwicklung verleite jedoch dazu, ein ebenso rasches Tempo für die Durchsetzung neuer Technologien anzunehmen. Möglicherweise erfordere die mit E-Commerce und anderen I&K-Technologien verbundenen Verhaltensänderungen eben doch den Zeitraum einer ganzen Generation. Zu spürbaren Wirkungen würde es dann freilich erst nach dem Jahr 2010 kommen.
Um mehr über die Akzeptanz und Nutzung von I&K-Technologien und die damit verbundenen räumlichen Verhaltensänderungen zu erfahren, sind aber weitere Forschungen nötig. Ein erster Ansatz in diese Richtung sind Untersuchungen, wie sie zunehmend gerade auch an Geographischen Instituten in Deutschland durchgeführt werden. Mit diesen Arbeiten wird es besser möglich werden, die räumlichen Auswirkungen von Informations- und Kommunikationstechnologien und dabei auch die Wirkungen von I&K-Technologien auf den Verkehr differenziert zu betrachten.


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