Computerassistierte Chirurgie: Vorhersagen, wann Klammer und Schere gebraucht werden

Autonome Robotersysteme und weitere intelligente Assistenzsysteme sollen das OP-Team in Zukunft verstärkt unterstützen.
André Wirsig / NCT/UCC

Wissenschaftler am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen Dresden (NCT/UCC) und am Zentrum für taktiles Internet mit Mensch-Maschine-Interaktion (CeTI) der TU Dresden haben mithilfe künstlicher Intelligenz erstmals eine Methode entwickelt, mit der Computer die Nutzung chirurgischer Instrumente vor deren Einsatz vorhersehen können. Sie verwendeten dafür ein neuronales Netz, das sie mit einem spezifischen Anforderungsprofil versahen und mit Videos von realen Operationen trainierten.

Die Fähigkeit intelligenter Softwarelösungen, Ereignisse im Operationssaal zu erkennen und zu interpretieren, ist eine wichtige Voraussetzung, um dem OP-Team situationsbezogene Assistenzfunktionen – beispielsweise durch Roboter – bereitstellen zu können. Die Ergebnisse ihrer Untersuchung stellten die Wissenschaftler im Rahmen der International Conference on Medical Image Computing & Computer Assisted Intervention (MICCAI) vor.

Das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen Dresden (NCT/UCC) ist eine gemeinsame Einrichtung des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), des Universitätsklinikums Carl Gustav Carus Dresden, der Medizinischen Fakultät Carl Gustav Carus der TU Dresden und des Helmholtz-Zentrums Dresden-Rossendorf (HZDR).

Im Operationssaal der Zukunft werden computerbasierte Assistenzsysteme eine deutlich größere Rolle spielen als heute. Sie sollen Arbeitsabläufe einfacher und sicherer machen. „Möglich sind solche Unterstützungsfunktionen allerdings nur, wenn Computer in der Lage sind, wichtige Ereignisse im OP zu antizipieren und zur richtigen Zeit die richtigen Informationen bereit zu stellen“, erklärt Prof. Stefanie Speidel, Leiterin der Abteilung Translationale Chirurgische Onkologie am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen Dresden (NCT/UCC). Ein System, das die Nutzung bestimmter chirurgischer Instrumente vorhersehen kann, ist beispielsweise eine wichtige Voraussetzung für den Einsatz autonomer Robotersysteme, die einfache Teilaufgaben im OP wie das Absaugen von Blut übernehmen könnten. Zudem könnte es früh vor Komplikationen warnen, wenn diese mit dem Einsatz eines bestimmten Instruments verknüpft sind oder die Effizienz bei der Vorbereitung von Instrumenten erhöhen. „Wir verfolgen allerdings nicht die Vision, den Chirurgen durch einen Roboter oder andere Assistenzen zu ersetzen. Die intelligenten Systeme sollen lediglich eine helfende Hand sein und den Arzt und das gesamte OP-Team entlasten“, sagt Prof. Jürgen Weitz, geschäftsführender Direktor am NCT/UCC und Direktor der Klinik für Viszeral-, Thorax- und Gefäßchirurgie des Universitätsklinikums Dresden.

Wissenschaftlern am NCT/UCC und am CeTI ist es nun erstmals gelungen, eine Methode zu entwickeln, mit der Computer lernen können, den Einsatz chirurgischer Instrumente situationsbezogen wenige Minuten vor deren tatsächlichem Gebrauch vorherzusagen. Sie nutzten hierfür ein künstliches neuronales Netz, das als Teilgebiet der Künstlichen Intelligenz die Fähigkeit des Menschen nachahmt, anhand von Beispielen zu lernen. Den intelligenten Algorithmus versahen sie mit folgender mathematisch formulierten Aufgabenstellung: Ausgehend von der kontinuierlichen Analyse der Video-Bilder einer Operation soll die Nutzung bestimmter Instrumente wenige Minuten vor deren Einsatz angezeigt werden. In den dazwischenliegenden Zeitintervallen, in denen das jeweilige Instrument nicht genutzt wird, soll das neuronale Netz lernen, nicht zu reagieren. Anschließend trainierten sie das neuronale Netz mit 60 Videos von Gallenblasenentfernungen, die standardmäßig über ein optisches Instrument (Laparoskop) im Bauchraum aufgenommen wurden. In diesen Videos war das Auftreten von fünf verschiedenen Instrumenten markiert.

Geringer Aufwand verspricht Praxistauglichkeit

An 20 weiteren Videos musste das Neuronale Netz dann sein Wissen ohne entsprechende Markierungen unter Beweis stellen. Die Wissenschaftler konnten hierbei zeigen, dass das System wichtige Lernfortschritte erzielt hatte und die Instrumentennutzung vielfach korrekt vorhersagen konnte. Auch im Vergleich mit anderen Herangehensweisen zeigte die Methode vielversprechende Resultate. Dies ist auch deshalb bemerkenswert, da der gewählte Ansatz im Vergleich zu anderen Herangehensweisen deutlich anwendungstauglicher ist und zugleich die Lösung komplexer Aufgaben ermöglicht. So setzen bereits bestehende Forschungsansätze zur Vorhersage von Ereignissen aus Video-Daten vielfach auf engmaschige manuelle Markierungen in den Trainings-Daten. Ein Aufwand, der bei langen Operations-Videos in der Praxis nicht leistbar wäre. Andere Methoden nehmen den Zeitpunkt des Ereignisses als gegeben an. Das Netz hat dann lediglich die Aufgabe, zwischen verschiedenen möglichen Ereignissen zu entscheiden. „Wir konnten hingegen zeigen, dass ein künstliches neuronales Netz mit spezifischen Anpassungen und einer geeignet formulierten mathematischen Aufgabenstellung in der Lage ist, mit geringem Markierungs-Aufwand sinnvolle Aussagen über die Art des zu wählenden Instruments und den zeitlichen Horizont der Anwendung zu treffen“, sagt Erstautor Dominik Rivoir von der Abteilung Translationale Chirurgische Onkologie am NCT/UCC.

Künstliche Neuronale Netze in der Medizin

In vielen Bereichen unseres Lebens zählen Leistungen künstlicher neuronaler Netze heute schon selbstverständlich zu unserem Alltag, beispielsweise bei Produktempfehlungen auf Online-Verkaufsplattformen oder automatischer Bilderkennung auf Social Media. Die Netze sind in der Lage, Informationen aus Bilddaten zu extrahieren. Durch das Training mit großen Bild- oder Videomengen lernen sie, Muster in Bildern zu erkennen, um eine vorgegebene Aufgabe zu lösen. Die Entscheidungsfindung innerhalb des mathematischen Systems ist hierbei jedoch häufig so komplex, dass sie sich vom Menschen kaum noch nachvollziehen lässt. Gerade bei medizinischen Anwendungen sollen die Entscheidungen des Computers aber möglichst transparent sein, um mögliche Fehler und potentielle Auslöser für die Entscheidungsfindung nachvollziehen zu können. Die Wissenschaftler wählten daher ein so genanntes Bayessches Netz, das es ermöglicht, für jede Teilentscheidung zu messen, mit welchem Grad an Unsicherheit das Netz die jeweilige Aussage trifft. Das ermöglicht es, Bildmerkmale zu identifizieren, die ein Netz mit so hoher Sicherheit erkennen kann, dass diese zum Beispiel als Ausgangspunkt für eine Assistenzfunktion genutzt werden können. In der vorliegenden Untersuchung interpretierte das Netz beispielsweise das Auftauchen eines Clips zum Abklemmen eines Blutgefäßes mit hoher Sicherheit als Merkmal, um den kurz darauf erfolgenden Einsatz einer Schere vorherzusagen.

Die Wissenschaftler wollen die Methode nun verfeinern und das Neuronale Netz mit weiteren Datensätzen füttern. Ein Fokus liegt auf Operations-Videos, in denen vermehrt stärkere Blutungen zu sehen sind. Anhand der Bilddaten soll das Netz noch besser lernen, wann Blutungen mittels eines speziellen Instruments abgesaugt werden müssen. Dies könnte künftig als Basis dienen, um den Einsatz eines robotergeführten Sauginstruments zeitlich zu steuern oder Komplikationen vorherzusagen.

Veröffentlichung:
Dominik Rivoir, Sebastian Bodenstedt, Isabel Funke, Felix von Bechtolsheim, Marius Distler, Jürgen Weitz, and Stefanie Speidel: Rethinking Anticipation Tasks: Uncertainty-aware Anticipation of Sparse Surgical Instrument Usage for Context-aware Assistance. In: Martel A.L. et al. (eds) Medical Image Computing and Computer Assisted Intervention – MICCAI 2020. MICCAI 2020. Lecture Notes in Computer Science, vol 12263. Springer, Cham. DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-030-59716-0_72

Zur Mitteilung steht ein Bild in druckfähiger Auflösung zur Verfügung:
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Bildunterschrift:
Autonome Robotersysteme und weitere intelligente Assistenzsysteme sollen das OP-Team in Zukunft verstärkt unterstützen. © NCT/UCC/André Wirsig

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E-Mail: c.bohnet@hzdr.de
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www.hzdr.de

NCT/UCC Dresden
Dresden ist seit 2015 neben Heidelberg der zweite Standort des Nationalen Centrums für Tumor-erkrankungen (NCT). Das Dresdner Zentrum ist eine gemeinsame Einrichtung des Deutschen Krebs-forschungszentrums (DKFZ), des Universitätsklinikums Carl Gustav Carus Dresden, der Medizinischen Fakultät der Technischen Universität Dresden und des Helmholtz-Zentrums Dresden-Rossendorf (HZDR).
Das NCT hat es sich zur Aufgabe gemacht, Forschung und Krankenversorgung so eng wie möglich zu verknüpfen. Damit können Krebspatienten in Dresden und Heidelberg auf dem jeweils neuesten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse behandelt werden. Gleichzeitig erhalten die Wissenschaftler durch die Nähe von Labor und Klinik wichtige Impulse für ihre praxisnahe Forschung. Gemeinsamer Anspruch beider Standorte ist es, das NCT zu einem internationalen Spitzenzentrum der patientennahen Krebsforschung zu entwickeln. Das Dresdner Zentrum baut auf den Strukturen des Universitäts KrebsCentrums Dresden (UCC) auf, das 2003 als eines der ersten Comprehensive Cancer Center (CCC) in Deutschland gegründet wurde. Seit 2007 wurde das UCC von der Deutschen Krebshilfe e.V. (DKH) kontinuierlich als „Onkologisches Spitzenzentrum“ ausgezeichnet.

Deutsches Krebsforschungszentrum (DKFZ)
Das DKFZ ist mit mehr als 3.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die größte biomedizinische Forschungseinrichtung in Deutschland. Über 1.300 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erforschen im DKFZ, wie Krebs entsteht, erfassen Krebsrisikofaktoren und suchen nach neuen Strategien, die verhindern, dass Menschen an Krebs erkranken. Sie entwickeln neue Methoden, mit denen Tumoren präziser diagnostiziert und Krebspatienten erfolgreicher behandelt werden können.
Beim Krebsinformationsdienst (KID) des DKFZ erhalten Betroffene, interessierte Bürger und Fachkreise individuelle Antworten auf alle Fragen zum Thema Krebs.
Gemeinsam mit Partnern aus den Universitätskliniken betreibt das DKFZ das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) an den Standorten Heidelberg und Dresden, in Heidelberg außerdem das Hopp-Kindertumorzentrum KiTZ. Im Deutschen Konsortium für Translationale Krebsforschung (DKTK), einem der sechs Deutschen Zentren für Gesundheitsforschung, unterhält das DKFZ Translationszentren an sieben universitären Partnerstandorten. Die Verbindung von exzellenter Hochschulmedizin mit der hochkarätigen Forschung eines Helmholtz-Zentrums an den NCT- und den DKTK-Standorten ist ein wichtiger Beitrag, um vielversprechende Ansätze aus der Krebsforschung in die Klinik zu übertragen und so die Chancen von Krebspatienten zu verbessern.
Das DKFZ wird zu 90 Prozent vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und zu 10 Prozent vom Land Baden-Württemberg finanziert und ist Mitglied in der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren.

Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden
Das Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden bietet medizinische Betreuung auf höchstem Versorgungsniveau. Als Krankenhaus der Maximalversorgung deckt es das gesamte Spektrum der modernen Medizin ab. Das Universitätsklinikum vereint 20 Kliniken und Polikliniken, vier Institute und zehn interdisziplinäre Zentren, die eng mit den klinischen und theoretischen Instituten der Medizinischen Fakultät zusammenarbeiten.
Mit 1.295 Betten und 160 Plätzen für die tagesklinische Behandlung von Patienten ist das Dresdner Uniklinikum das größte Krankenhaus der Stadt und zugleich das einzige Krankenhaus der Maximalversorgung in Ostsachsen. Rund 860 Ärzte decken das gesamte Spektrum der modernen Medizin ab. 1.860 Schwestern und Pfleger kümmern sich um das Wohl der Patienten. Wichtige Behandlungsschwerpunkte des Uniklinikums sind die Versorgung von Patienten, die an Krebs, an Stoffwechsel- und an neurodegenerativen Erkrankungen.
Deutschlands größter Krankenhausvergleich des Nachrichtenmagazins „Focus“ bescheinigt dem Universitätsklinikum Carl Gustav Dresden eine hervorragende Behandlungsqualität. Die Dresdner Hochschulmedizin belegt deshalb Platz zwei im deutschlandweiten Ranking.

Medizinische Fakultät Carl Gustav Carus der Technischen Universität Dresden
Die Hochschulmedizin Dresden, bestehend aus der Medizinischen Fakultät Carl Gustav Carus und dem gleichnamigen Universitätsklinikum, hat sich in der Forschung auf die Bereiche Onkologie, metabolische sowie neurologische und psychiatrische Erkrankungen spezialisiert. Bei diesen Schwerpunkten sind übergreifend die Themenkomplexe Degeneration und Regeneration, Imaging und Technologieentwicklung, Immunologie und Inflammation sowie Prävention und Versorgungsforschung von besonderem Interesse. Internationaler Austausch ist Voraussetzung für Spitzenforschung – die Hochschulmedizin Dresden lebt diesen Gedanken mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus 73 Nationen sowie zahlreichen Kooperationen mit Forschern und Teams in aller Welt.

Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf (HZDR)
Das Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf (HZDR) forscht auf den Gebieten Energie, Gesundheit und Materie. Folgende Fragestellungen stehen hierbei im Fokus:
• Wie nutzt man Energie und Ressourcen effizient, sicher und nachhaltig?
• Wie können Krebserkrankungen besser visualisiert, charakterisiert und wirksam behandelt werden?
• Wie verhalten sich Materie und Materialien unter dem Einfluss hoher Felder und in kleinsten Dimensionen?
Zur Beantwortung dieser wissenschaftlichen Fragen betreibt das HZDR große Infrastrukturen, die auch von externen Messgästen genutzt werden: Ionenstrahlzentrum, Hochfeld-Magnetlabor Dresden und ELBE-Zentrum für Hochleistungs-Strahlenquellen.
Das HZDR ist Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft, hat sechs Standorte (Dresden, Freiberg, Görlitz, Grenoble, Leipzig, Schenefeld bei Hamburg) und beschäftigt knapp 1.200 Mitarbeiter – davon etwa 500 Wissenschaftler inklusive 170 Doktoranden.

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Dr. Anna Kraft Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Nationales Centrum für Tumorerkrankungen Dresden (NCT/UCC)

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