Der Werkstoff wird digital: Fraunhofer stellt Materials Data Space vor
Neue Werkstoffe sind der entscheidende Treiber bei der Entwicklung innovativer Produkte im verarbeitenden Gewerbe. Schätzungen zufolge basieren schon heute bis zu 70 Prozent aller neuen Erzeugnisse auf neuen Werkstoffen.
Für Industrie 4.0, die enge Verzahnung der Produktion mit der modernen Informations- und Kommunikationstechnik, wird die Bedeutung der Werkstoffe noch steigen. Sie sollen maßgeschneiderte Produkte nach individuellen Kundenwünschen möglich machen –kostengünstig, mit hoher Qualität und bei kurzen Innovationszyklen.
Um dafür die Grundlagen zu schaffen, hat der Fraunhofer-Verbund MATER IALS, der die Kompetenzen von 15 materialwissenschaftlich orientierten Instituten der Fraunhofer-Gesellschaft bündelt, das Konzept des Materials Data Space entwickelt.
»Der Materials Data Space stellt alle relevanten Informationen zu den Werkstoffen und Bauteilen digitalisiert in einer leistungsfähigen und unternehmensübergreifenden Plattform zur Verfügung», beschreibt Prof. Dr. Peter Elsner, Vorsitzender des Verbunds die Initiative.
»Wir wollen es Entwicklern und Ingenieuren ermöglichen, die eingesetzten Werkstoffe in den jeweiligen Entwicklungsschritten als variable Systeme mit einstellbaren Eigenschaften zu begreifen und zu nutzen«, sagt Elsner. Am Ende der Entwicklung könnte ein virtueller Raum stehen, in dem sich Werkstücke und Produkte autonom bewegen, das heißt in Wechselwirkung mit den Herstellungs- und Bearbeitungsmaschinen und -anlagen stehen und ihren eigenen Gestehungsprozess steuern.
»Fraunhofer stellt auf Basis des Industrial Data Space eine weitere zentrale Säule für eine erfolgreiche Industrie 4.0 bereit. Im Industrial Data Space schaffen wir einen sicheren Datenraum für Wertschöpfungsnetzwerke. Mit dem Materials Data Space fügen wir die Material- und Werkstoffdaten der an der Wertschöpfung beteiligten Instanzen hinzu«, erklärt Prof. Dr. Reimund Neugebauer, Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft, und ergänzt:
»Die Entwicklung neuer Materialien, die fit für Industrie 4.0 sind, wäre ein entscheidender Wettbewerbsvorteil für die deutsche Industrie. Denn der Materialkostenanteil liegt im verarbeitenden Gewerbe zwischen 35 und 55 Prozent des Bruttoproduktionswertes und damit deutlich höher als beispielsweise der Energiekostenanteil.«
Daten zu einem Werkstoff beziehungsweise Bauteil stehen im Materials Data Space durchgängig über den gesamten Lebenszyklus zur Verfügung, vom Materialentwickler über den Werkstoff-, Halbzeug- und Bauteilhersteller bis hin zum Endnutzer und zum strategischen Recycling. An jedem Schritt des Prozesses werden in Echtzeit die dynamischen Materialeigenschaften erfasst und in den Materials Data Space eingespeist.
Durch die Vernetzung können sich selbst organisierende, unternehmensübergreifende Wertschöpfungsnetzwerke etablieren, die sich nach unterschiedlichen Kriterien wie Kosten, Verfügbarkeit und Ressourcenverbrauch optimieren lassen. Informationstechnisches Fundament des Materials Data Space sind Datendienste, die derzeit im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projekts zum Industrial Data Space entwickelt und pilotiert werden.
»Wir bringen die Werkstoffe zum Sprechen. Sie können uns zu jedem Zeitpunkt ihre Eigenschaften mitteilen. Diese Informationen stehen im Materials Data Space zur Verfügung und helfen beispielsweise, den Materialverbrauch zu senken, die Entwicklung neuer Werkstoffe zu beschleunigen, den Herstellungsprozess zu optimieren, Lebensdauer und Zuverlässigkeit zu steigern oder zu erkennen, bei welchen Produkten sich das Recycling lohnt«, erläutert Prof. Dr. Ralf B. Wehrspohn, der das Projekt koordiniert, die Idee.
»Die Materialien und Werkstoffe sagen uns beispielsweise: Ich bin noch fünf Jahre lang voll belastbar, erst dann treten Ermüdungserscheinungen auf. Wenn man Element A, das in mir steckt, durch Element B ersetzt, kann ich bei viel niedrigeren Temperaturen hergestellt werden. Oder aber: Ich bin hierfür nicht mehr zu gebrauchen, aber meine Eigenschaften qualifizieren mich perfekt zur Weiterverarbeitung als X«, umreißt er die Möglichkeiten.
Entscheidend dafür, die Werkstoffe selbst Industrie 4.0-fähig zu machen, ist die Kenntnis ihrer Mikrostruktur. Ziel der Forscher ist es, sie in digitale Materialmodelle umzusetzen, die zu Startpunkten für durchgängige Prozesskettensimulationen werden. Der Materials Data Space ist ein Baukasten, aus dem die Experten für Material- und Werkstoffinnovationen oder -optimierungen neue Module entnehmen oder neu verknüpfen können. Zugleich wird er mit seinem Datenbestand zum »Gedächtnis« des Werkstoffs.
Neben den Angaben zur Mikrostruktur fließen in den Materials Data Space auch die Informationen von Werkstoffen und Bauteilen ein, die mit sensorischen Eigenschaften versehen sind. Sie können ihren aktuellen Zustand selbst erfassen, etwa zum Abnutzungszustand. Diese Daten geben die Werkstoffe eigenständig an Herstellungs-, Bearbeitungs- und Montagemaschinen weiter, die dann darauf reagieren können.
Zugleich berücksichtigt der Materials Data Space Daten von adaptiven Bauteilen, die sich aufgrund der eigenermittelten oder der vom Gesamtsystem signalisierten Belastungssituation anpassen. So entstehen lernende Fertigungsverfahren, in denen die Prozesse stets optimal auf die Eigenschaften der jeweils eingesetzten Materialien zugeschnitten sind. Nicht zuletzt können die Daten selbst zur Grundlage neuer Geschäftsmodelle werden.
Viele deutsche Unternehmen, darunter auch Mittelständler, haben deshalb bereits Interesse an Use-Cases zum Aufbau und zur Nutzung des Materials Data Space signalisiert. Gemeinsam mit Industriepartnern sollen zunächst drei Pilotprojekte im Bereich der Automobilindustrie umgesetzt werden. Konkret geht es dort um Metalle, Faserverbundwerkstoffe sowie Funktionsmaterialien und deren Recycling.
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