Es wird rutschig in der bio-inspirierten Robotik
Tiere kommen in ihrer natürlichen Umgebung mit vielen verschiedenen Oberflächen in Berührung, wobei das Spektrum von sehr glatt bis sehr rau reicht. Während der Mensch je nach Terrain unterschiedliche Schuhe anziehen kann, um Aus- oder Abrutschen zu vermeiden, muss ein Tier- oder Insektenfuß multifunktional sein. Nur so kann das Lebewesen schnell von jeder Oberfläche, auf der es sitzt oder steht, entkommen. Diese ausgeklügelte Anpassung erhöht seine Überlebenschancen in der Natur.
Die Wüstenheuschrecke, auch als Schistocerca gregaria bekannt, ist ein solch gut angepasstes Insekt. An ihren Füßen befinden sich eine Art nasse, klebrige Ballen sowie Stacheln, die es ihr ermöglichen, schnell von jeder Oberfläche zu springen. Aus diesem Grund hat Matthew Woodward sie für sein Forschungsprojekt ausgewählt.
Er ist Wissenschaftler in der Abteilung für Physische Intelligenz am Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme (MPI-IS) in Stuttgart. Seine Publikation, die vom Direktor der Abteilung Metin Sitti mitverfasst wurde, trägt den Titel „Morphological intelligence counters foot slipping in the desert locust and dynamic robots“.
Sie wurde in der aktuellen Ausgabe der Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) veröffentlicht. Zusammen mit Nature und Science gehört diese Fachzeitschrift zu den drei führenden interdisziplinären Zeitschriften weltweit.
Woodward, der sowohl Maschinenbauingenieur, Robotiker als auch Biologe ist, untersuchte die Fußstruktur der Wüstenheuschrecke und ihr Sprungverhalten auf verschiedenen Oberflächen, um die Eigenschaften zu extrahieren, die dazu beitragen, dass das Tier – wenn es ins Rutschen kommt – schnell Halt findet (indem es die Reibung erhöht).
Er ließ die Heuschrecke zum Beispiel von wasserabweisendem Glas, von Gitter, Holz oder Sandstein springen (wie in dem Youtube-Video zur Forschungsarbeit zu sehen ist, Link siehe unten). Um zu verstehen, wie das Insekt sowohl von einer glatten als auch von einer rauen Oberfläche springen kann, baute der Wissenschaftler einen von der Heuschrecke inspirierten Roboter (siehe Abbildung 1).
Er dient dazu, das Sprungverhalten der Heuschrecke zu imitieren. Woodward baute viel Heuschrecken-inspiration ein, veränderte aber auch den natürlichen Bauplan: Um die Bewegung der Beine auf das zum Springen Wesentliche zu beschränken, spiegelte Woodward die Segmente des Heuschreckenbeins und baute diese Doppelung ein.
Anschließend testete Woodward diesen bio-inspirierten Roboter in seinem Labor am MPI-IS. Aus den Ergebnissen seiner zahlreichen Tests schloss er, dass das Abrutschen der Heuschrecke keine Anomalie ist, sondern Teil der dynamischen Fortbewegung des Insekts. Woodward zog daraus Schlussfolgerungen für seinen Roboter: Auch ohne eingebaute Rechenkapazität kann eine morphologische Intelligenz, eingebettet in die physische Struktur des Roboters, das Ausmaß des Abrutschens reduzieren. Der Roboter mit seiner intelligenten Bauweise kann – auch wenn er ausgerutscht ist – seine Fortbewegungsleistung auf verschiedenen Oberflächen beibehalten. Oder um es kurz zu sagen: Ausrutschen, macht nichts, weiter geht´s.
Wie viel kann die Struktur für dich tun?
„Der Grund, warum PNAS meine Forschungsarbeit ausgewählt hat, ist, dass bis heute die Ingenieure, die dynamische Roboter entwerfen, wenig darüber nachdenken, was tun, wenn der Roboter ausrutscht. Wie kommt man mit Rutschen zurecht? Selbst die fortschrittlichsten Roboter haben oft relativ einfache Füße. Das ist deshalb so, weil sich die meisten Robotiker auf die Rechenleistung eines Systems – die Software – konzentrieren. Aber das ändert sich zusehends: immer mehr Forscher fokussieren sich auf die Hardware und versuchen, mithilfe einer intelligenten Struktur Lauf-, Sprung-, Gleit- oder Flugroboter zu optimieren.“
Woodward glaubt, dass man Roboter besser machen kann, indem man morphologische Intelligenz in ein physisches System einbringt (das Wort Morphologie kommt aus dem Altgriechischen: Morphé bedeutet Gestalt oder Form). Dies ist ein neues und wachsendes Forschungsgebiet, das sowohl bei Biologen als auch bei Robotikern zunehmend auf Interesse stößt.
„Forscher wie ich versuchen, die wissenschaftliche Gemeinschaft zu ermutigen, sich die Struktur eines Systems anzusehen und zu fragen, wie viel die Struktur für sie tun kann. Ich sehe die Robotik wegkommen von der Frage, ob man sich bewegen kann, um stattdessen zu fragen, wie man eine spezifische Bewegung am besten meistert,“ so Woodward.
Er gehört damit einer neuen Generation von Forschern an. Er möchte, wie die wenigen anderen in diesem Bereich, die komplexen Fortbewegungsprobleme selbst der fortschrittlichsten Roboter lösen können. So erforscht er die Strategien, die Tiere anwenden, wenn sie dynamisch mit ihrer natürlichen Umgebung interagieren, und die im Laufe der Evolution perfektioniert wurden.
Woodward forscht an der Schnittstelle von Biologie und Robotik. „Ich schaue mir das Tier an, um zu verstehen, wie es sich tatsächlich bewegt. Dann versuche ich, seine Konstruktionsprinzipien zu extrahieren und dieses Wissen auf Roboter anzuwenden. Allerdings kann ich nicht alles an dem Tier testen, was ich will; ich kann es ja nicht ändern. Also teste ich den Aufbau und die Struktur stattdessen am Roboter. Dies erlaubt mir, neue Dinge über das Tier und seine Fortbewegung zu entdecken und die Frage zu beantworten, warum die Evolution bestimmte Designs gewählt hat. Es ist ein Lernzyklus, bei dem mich das Tier über den Roboter und der Roboter über das Tier unterrichtet. Am Ende erlange ich ein tieferes Verständnis für beide.“
In seiner Forschungsarbeit hat Woodward das Hinterbein der Wüstenheuschrecke genau unter die Lupe genommen: Ihr Fuß besteht aus drei Segmenten, an denen jeweils nasse, klebrige Ballen angewachsen sind. Am Unterschenkel (das Schienbein beim Menschen, knapp über dem Knöchel) befinden sich zusätzlich vier Stachel, die wie Klauen aussehen (in Abbildung 2 sind nur drei sichtbar). „Dadurch, dass die Heuschrecke sowohl Ballen als auch Stacheln hat, kommt sie sowohl mit rauen als auch mit glatten Oberflächen gut zurecht – einschließlich künstlicher Oberflächen wie Glas“, erklärt Woodward.
Dabei entdeckte er in seinen Hunderten von Tests mit weiblichen und männlichen Heuschrecken, dass Abrutschen für das Insekt völlig normal ist. Er beobachtete auch, dass die Stacheln an den Füßen mit der Oberfläche in Kontakt kommen, wenn die Heuschrecke springt. Das nämlich verbessert die Haftung auf rauen Oberflächen. Außerdem sind die Stacheln nicht fixiert, sondern beweglich.
Genaugenommen gibt es ein Gelenk, das es den Stacheln ermöglicht, bei Bedarf einen besseren Halt an der Oberfläche zu bekommen. Und Woodward fand heraus, dass die Heuschrecke gelegentlich ihren Sprung einleitet, ohne dass ihre Füße den Boden berühren. Sie hält sich nur mit den vier vorderen Armen. „Das war wirklich spannend!“, sagt Woodward.
„Das bedeutet nämlich, dass die Füße der Heuschrecke auch für das Greifen während einer Bewegung ausgelegt sind. So sind diese Konstruktionsprinzipien auch für andere Fortbewegungsformen wie Gehen oder Rennen anwendbar.“ Eine Heuschrecke kann also dem Feind davonspringen – ob ihre Füße mit der Oberfläche in Berührung kommen oder nicht. Und sollte sie ins Rutschen kommen, sind ihre klebrigen Ballen und Stacheln so konstruiert, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit Halt finden.
„Ich fand heraus, dass Heuschrecken beim Springen oft ausrutschen. Aber gleichzeitig fängt sie sich ganz schnell und reduziert damit die Auswirkung, die das Rutschen auf ihren Sprung hat. Wir konnten keinen signifikanten Unterschied in der Energie eines No-Slip-Case zu einem Slip-And-Reattach-Case sehen. Das bedeutet, dass sie beim Abrutschen und Haltfinden nur sehr wenig Energie verliert. Rutschen ist also nicht kontraproduktiv bei der Flucht vor einem Feind.“
Ein System bauen mit der Erwartung auszurutschen
Woodward beobachtete, dass die Stacheln am Fuß der Heuschrecke gut mit rauen Oberflächen interagieren. Ihre scharfe, spitze, nadelartige Struktur verhindert das Wegrutschen der Heuschrecke, indem sie sich in die raue Oberfläche hineinkrallt. „Wir haben entdeckt, dass die Stacheln bei rauen Oberflächen nützlich sind und die Ballen bei glatten Oberflächen wie Fensterglas. Auch haben wir beim Bau des Roboters festgestellt, dass wenn wir einige der Eigenschaften ändern – was wir mit der Heuschrecke natürlich nicht machen können – die beiden Befestigungsmechanismen Ballen und Stacheln sich gegenseitig aushelfen“.
Woodward nahm an seinem Roboter z. B. die Ballen an den Füßen ab und erhöhte die Sprungkraft. Auf der von ihm verwendeten Sandsteinoberfläche beobachtete er große Kratzer auf dem Stein, wo die Stacheln durch das Material rissen. „Wenn man die Pads hinzufügt, addiert man tatsächlich genügend Reibung, um die Kraft auf die Stacheln auf ein Niveau zu senken, auf dem sie sich an der schwachen Sandsteinoberfläche festhalten können. So sind nicht nur die Ballen und die Stacheln für verschiedene Oberflächen ausgelegt, sie helfen sich auch gegenseitig.“
Woodward änderte die Eigenschaften seines Roboters weiter. Er kam zu dem Schluss, dass ein Abrutschen der Heuschrecke keine Anomalie ist, sondern normal. „Menschen wollen einen Ausrutscher beim Gehen oder Laufen um jeden Preis vermeiden. Es gibt eine riesige Schuhindustrie, die versucht, genau dies zu vermeiden. Bei einer Heuschrecke aber wollte die Natur, dass sie abrutscht.“
Daher arbeitete der Wissenschaftler daran, ein System zu bauen, bei dem Abrutschen durchaus gewollt ist. Denn wenn Rutschen zum natürlichen Bewegungsablauf gehört, und man diese Eigenschaften einbaut in die Struktur von Roboterfüßen, dann sind die Auswirkungen auf die Fortbewegung – sollte es doch einmal so weit kommen – begrenzt.
Die vollständige wissenschaftliche Arbeit finden Sie hier:
http://www.pnas.org/content/early/2018/08/21/1804239115
Hier der Youtube Link:
https://www.youtube.com/watch?v=ftSKSY1YjmE&feature=youtu.be
Über uns
Dr. Matthew Woodward ist Postdoc in der Abteilung für Physische Intelligenz am Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme in Stuttgart.
Woodward erhielt seinen BSc-Abschluss in Maschinenbau von der San Diego State University in San Diego im Jahr 2008 und seinen MSc und PhD-Abschluss in Maschinenbau von der Carnegie Mellon University in Pittsburgh im Jahr 2010 bzw. 2017. Im Jahr 2013 war er in Teilzeit Professor für Maschinenbau an der Robert Morris University in Pittsburgh. Seit 2014 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für intelligente Systeme in Stuttgart.
Woodward Forschung zielt darauf ab, die Mobilität von Robotern zu verbessern. Sein Ziel ist es, die Strategien zu verstehen, die Tiere bei den verschiedenen Fortbewegungsmodi wie Springen, Fliegen oder Schwimmen anwenden. Wie trägt die morphologische Intelligenz ihres Körperaufbaus zu ihrer Fähigkeit bei, sich robust durch ihre natürliche Umgebungen bewegen zu können. Dynamische Fortbewegung stellt eine noch größere Herausforderung dar, da die Zeitskalen so klein werden können, dass nicht mehr genügend Zeit für die „Gehirnsteuerung“ bleibt, sondern nur noch die „Körperintelligenz“ genutzt werden kann, um bestimmte Aspekte des Tieres oder des Roboters zu steuern. Diese Konzepte, gepaart mit fortschrittlichen Betätigungstechniken unter Verwendung intelligenter Materialien, bilden die Grundlage für fortschrittlichere Roboterplattformen für Such- und Rettungseinsätze, Weltraum- und Planetenerkundung, Umweltüberwachung und Gesundheitswesen.
Professor Dr. Metin Sitti ist Direktor der Abteilung für Physische Intelligenz am Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme in Stuttgart. Sitti erhielt 1992 und 1994 seinen BSc und MSc in Elektrotechnik von der Boğaziçi Universität in Istanbul und 1999 seinen Doktortitel in Elektrotechnik von der Universität Tokio. In den Jahren 1999 und 2002 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der University of California in Berkeley. In den Jahren 2002-2016 war er Professor im Department of Mechanical Engineering and Robotics Institute der Carnegie Mellon University in Pittsburgh, USA. Seit 2014 ist er einer der Direktoren am Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme.
Sitti und sein Team wollen die Prinzipien von Design, Fortbewegung, Wahrnehmung, Lernen und Steuerung von kleinen mobilen Robotern aus intelligenten und weichen Materialien verstehen. Die Intelligenz solcher Roboter beruht hauptsächlich auf ihrem physischen Design, ihrem Material, Anpassung und Selbstorganisation und nicht auf ihrer rechnerischen Intelligenz. Solche Methoden der physischen Intelligenz sind für kleine Milli- und Mikroroboter unentbehrlich, vor allem wegen ihrer inhärent eingeschränkten Rechen-, Antriebs-, Leistungs-, Wahrnehmungs- und Steuerungsmöglichkeit. Sittis Zukunftsvision ist, dass seine neuartigen Kleinrobotersysteme eines Tages im Gesundheitswesen, in der Biotechnologie, in der Produktion oder in der Umweltüberwachung eingesetzt werden könnten.
Am Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme wollen wir die Prinzipien von Wahrnehmung, Handeln und Lernen in intelligenten Systemen verstehen.
Unser Institut ist auf zwei Standorte verteilt, auf Stuttgart und Tübingen. Die Forschung am Standort Stuttgart umfasst Kleinrobotik, Selbstorganisation, haptische Wahrnehmung, bio-inspirierte Systeme, medizinische Robotik und physische Intelligenz. Der Tübinger Standort des Instituts konzentriert sich auf maschinelles Lernen, Computer Vision und die Steuerung intelligenter Systeme.
Das Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme ging 2011 aus dem Max-Planck-Institut für Metallforschung hervor.
Die Max-Planck-Gesellschaft ist Deutschlands erfolgreichste Forschungsorganisation – seit ihrer Gründung 1948 finden sich alleine 18 Nobelpreisträger und Nobelpreisträgerinnen in den Reihen ihrer Wissenschaftler. Damit ist sie auf Augenhöhe mit den besten und angesehen¬sten Forschungsinstitutionen und Universitäten der Welt.
Derzeit gibt es 84 Max-Planck-Institute und Einrichtungen, die alle Grundlagenforschung in den Natur-, Bio-, Geistes- und Sozialwissenschaften im Dienste der Allgemeinheit betreiben. Max-Planck-Institute engagieren sich in Forschungsgebieten, die besonders innovativ sind, einen speziellen finanziellen oder zeitlichen Aufwand erfordern. Ihr Forschungsspektrum entwickelt sich dabei ständig weiter: Neue Institute werden gegründet oder bestehende Institute umgewidmet, um Antworten auf zukunftsträchtige wissenschaftliche Fragen zu finden. Diese ständige Erneuerung erhält der Max-Planck-Gesellschaft den Spielraum, auf neue wissenschaftliche Entwicklungen rasch reagieren zu können.
http://www.pnas.org/content/early/2018/08/21/1804239115
https://is.mpg.de/en/news/a-slippery-world-in-bio-inspired-robotics
https://www.youtube.com/watch?v=ftSKSY1YjmE&feature=youtu.be
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