Farbensehen am Rand des Gesichtsfelds

Wissenschaftler aus Göttingen, Sydney und New York haben herausgefunden, wie Farbreize im äußeren Gesichtsfeldbereich verarbeitet werden. Während die meisten Menschen Farben bei direktem Hinsehen gut unterscheiden können, nimmt die Farbwahrnehmung zur Peripherie des Auges hin deutlich ab. Liegt das an einer ungenauen Verschaltung der Farbrezeptoren in der Netzhaut des Auges oder an der weiteren Verarbeitung von Farbsignalen im Gehirn? Das war lange eine offene Frage. Ein Team um Prof. Dr. Barry Lee am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen hat nun nachgewiesen, dass auch in Randbereichen des Gesichtsfelds die Nervenzellen im Auge noch farbspezifisch reagieren. Der Verlust der Farbwahrnehmung im äußeren Gesichtsfeld muss also im Gehirn passieren. (Martin, Lee, White, Solomon, & Rüttiger, Nature 410, 933-936 (2001) )

Das menschliche Sehsystem enthält zwei unterschiedliche, jeweils kontrastierende Farbkanäle (rot-grün und blau-gelb), in denen unsere gesamte Farbwahrnehmung repräsentiert ist. Das blau-gelbe System ist bei den Säugetieren entwicklungsgeschichtlich alt, das rot-grüne System kommt dagegen nur bei Affen und Menschen vor – andere Säugetiere sind rot-grün-farbenblind. Die Farbkanäle kommen durch die drei Gruppen von Photorezeptoren zustande, die nur bei Tageslicht reagieren (sogenannte "Zäpfchen") und vorwiegend Licht kurzer Wellenlänge (S, blau), mittel- (M, grün-gelb) oder langwelliges Licht (L, rot) absorbieren; andere Säugetiere als Affen und Menschen besitzen nur M-Rezeptoren. Durch Kombination dieser Signale entstehen die beiden Farbkanäle: +S-(M+L) ergibt den blau-gelben Farbkanal, +M-L (und +L-M) den rot-grünen. Diese Verrechnung erfolgt schon bald hinter den Rezeptoren, noch in der Augennetzhaut (Retina).

Die anatomischen Grundlagen dieser Verschaltung sind für den blau-gelben Farbkanal verstanden, aber die Grundlage des Rot-Grün-Kanals ist noch unsicher. Man weiß, dass das verantwortliche Zellsystem in der Augennetzhaut die sogenannten "midget cells" (Zwergzellen) sind. Im zentralen Gesichtsfeld ist ein einzelner M- oder L-Rezeptor auf eine einzelne bipolare Zelle des "midget cell"-Systems verschaltet, und dann weiter auf eine einzelne Ganglionzelle, die ihre Signale zum Gehirn sendet. Entweder reicht diese spezifische Verschaltung aus, dass Rot-Grün-Farbsignale die Hirnrinde erreichen, oder es muss weitere Verschaltungsmechanismen im Auge geben, die das rot-grüne Farbsignal spezifisch herausfiltern. Nach solchen Mechanismen hat man anatomisch gesucht, sie aber nicht gefunden.

Ein kritischer Test, um diese beiden Hypothesen zur unterscheiden, ist das Farbensehen in Randbereichen der Retina, in Gesichtsfeldbereichen 20-30º von der Mitte entfernt. Hier sieht es so aus, als ob die spezifische Verbindung des "midget cell"-Systems zusammengebrochen ist; jede Ganglionzelle hat Kontakt mit etwa 20-30 verschiedenen Rezeptoren. Ohne die spezifische Verbindung einzelner Rezeptorentypen auf dieselbe Zelle sollten diese peripheren Zellen daher nicht rot-grün farbempfindlich sein. Bei Affen und Menschen ist die Farbempfindlichkeit im äußeren Gesichtsfeldbereich tatsächlich deutlich verringert, und man hat dies eben darauf zurückgeführt, dass die zelluläre Grundlage für eine Rot-Grün-Unterscheidung bereits auf retinaler Ebene verloren gegangen ist. Nur durch spezifische Verschaltungsmechanismen könnten diese Zellen ihre Rot-Grün-Empfindlichkeit beibehalten.

In einer Zusammenarbeit zwischen dem Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen, der Universität in Sydney, Australien, und dem State College für Optometrie in New York haben Wissenschaftler jetzt mit quantitativen Methoden die Rot-Grün-Farbempfindlichkeit von Ganglionzellen in Randbereichen der Augennetzhaut untersucht. Die Ergebnisse waren eindeutig: die Eigenschaften von peripheren Rot-Grün-Zellen waren denen von zentralen Rot-Grün-Zellen sehr ähnlich. Der Verlust der Farbempfindlichkeit im peripheren Gesichtsfeld muss also cortikalen Ursprung haben, d.h. durch die weitere Verarbeitung im Gehirn zustande kommen.

Der jetzt in Nature veröffentlichte Befund wirft die Frage auf, wie diese Zellen in der Retina anatomisch verschaltet sind. Die Dendritenbäume peripherer Zwerg-Ganglionzellen haben oft sehr unregelmäßige Form; in Modellrechnungen konnten die Autoren zeigen, dass diese Unregelmäßigkeiten einer spezifischen Auswahl von ausschließlich M- oder L-Rezeptoren entsprechen könnten – bisher dachte man, dass die verschiedenen Rezeptoren zufällig auf eine Ganglionzelle konvergieren. Zwei Mechanismen sind denkbar, wie sich solche spezifischen Verbindungen entwickeln könnten: entweder durch so genanntes Hebbsches Lernen während der frühen Entwicklung des visuellen Systems, z.B. wenn Säuglinge Farbreize sehen, oder durch biochemische Marker, die helfen, spezifische Verbindungen aufzubauen. Die letztere Möglichkeit erscheint zwar plausibler, aber die Gensequenzen der M- und L-Rezeptoren unterscheiden sich nur in wenigen Aminosäuren, so dass es schwer vorstellbar ist, wie ein solcher Marker generiert werden könnte. Dies herauszufinden ist eine Herausforderung für die weiteren Untersuchungen.

Abbildung: Die Dendritenbäume von Ganglienzellen in der Augennetzhaut sind gewöhnlich rund und empfangen Signale von allen Rezeptoren in ihrem Einzugsgebiet. Zur Peripherie hin sind die Dendritenbäume von "midget cells" aber oft unregelmäßig; das Bild zeigt eine Zelle mit einem extrem unregelmäßigen Dendritenbaum. Das anatomische Bild wurde einer (absichtlich verschwommenen) Abbildung der Rezeptorenverteilung überlagert; die blauen Felder markieren S-Rezeptoren (die regelmäßig angeordnet sind), die roten und grünen Felder entsprechen den Orten von L- und M-Rezeptoren (mit unregelmäßiger Anordnung). Die Form des Dendritenbaumes legt nahe, dass nur Bipolarzellen kontaktiert werden, die mit einem bestimmten Rezeptortyp verbunden sind, hier L-Rezeptoren. Modellrechnungen auf der Basis anatomisch beobachteter, unregelmäßiger Verteilungen bestätigen diese Vermutung. (Reprinted by permission from Nature (410:933-936) copyright (2001) Macmillan Magazines Ltd.)

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Weitere Informationen erhalten Sie von: Prof. Dr. Barry B. Lee
Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie
AG Primatennetzhaut und Farbensehen
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