Mehr als satte und saubere Klientinnen und Klienten
Altenpflege in Deutschland steht vor interkulturellen Herausforderungen
Altenpflege – aus beschäftigungspolitischer Sicht ein Wachstumsmarkt mit zahlreichen offenen Stellen, gesellschaftspolitisch betrachtet ein Bereich der mit der zunehmenden Überalterung der Bevölkerung in Deutschland an Bedeutung gewinnt. Während die Alten früher vorwiegend in und von ihren Familien, insbesondere von den Frauen, versorgt wurden, muss heute die Pflege immer häufiger an Einrichtungen der Altenhilfe abgegeben werden. Davon betroffen sind nicht nur deutsche Familienmitglieder, sondern auch Mitbürgerinnen und Mitbürger ausländischer Herkunft. Für die bisherige Praxis der Altenpflege in Deutschland ist das eine große Herausforderung.
Altern ist nicht besonders populär in einer fit-for-fun-Gesellschaft. Das Diktat der ewigen Schönheit und Gesundheit verhindert eine Auseinandersetzung mit dem letzten Lebensabschnitt und eine Wertschätzung der Lebensleistung alter Menschen. Wertvoll ist, wer aktiv ist. Vielen alten Menschen fällt es daher schwer, sich Hilfe bei den alltäglichen Aktivitäten angedeihen zu lassen oder gar in ein Heim umzuziehen. Die besondere Herausforderung für Altenpflegekräfte besteht also darin, in einem Aushandlungsprozess, die individuellen Bedürfnisse ihrer Klientel zu ermitteln und das Pflegeangebot entsprechend auszurichten. Da sind Konflikte vorprogrammiert. Vor allem dann, wenn institutionelle Interessen und individuelle Bedürfnisse der zu Pflegenden nicht oder nur schwer zu vereinbaren sind. Doch Altenpflege ist Beziehungspflege, so die Pflegewissenschaftlerin Olivia Dibelius in einer Einführung in den Beruf. An ihren Grenzen kann und muss gearbeitet werden. Zum Aufbau einer Beziehung gehören Qualitäten wie Einfühlungsvermögen, Vertrauen, Respekt, gelungene Kommunikation und auch das „Sich-Verstehen“ – in mehr als nur sprachlichem Sinn. Gleichzeitig soll die Biografie der zu Pflegenden in den Pflegeprozess integriert werden. Altenpflege spielt sich also auf einem hohem sozialen Niveau ab – es geht um mehr als um ruhige, satte und saubere Klienten und Klientinnen.
Das Konzept der Transkulturellen Pflege
Was geschieht aber beim Aufbau einer Pflegebeziehung, wenn jemand einen anderen kulturellen Hintergrund hat als den eigenen? Wie gestaltet sich die Pflege in diesem Kontext? In den USA stellte man sich diese Fragen bereits in den 70er Jahren. Die Antwort darauf sollte das Konzept der Transkulturellen Pflege von Madeleine Leininger geben. Was als Quintessenz von ihren Überlegungen und Forschungen in verschiedenen Kulturen der Welt übrig blieb, liest sich wie ein Rezept für „Die Pflege von…“. Schenkt man Leiningers Ausführungen glauben, sind beispielsweise alle „German-Americans“ stoisch und kontrolliert, fleißig und hart arbeitend und halten an ihrem religiösem Glauben fest. Kreiert wurden also Stereotypen, die eine individuelle und biografiebezogene Pflege eher verhindern als fördern.
Kultur und Migration als Faktoren der Altenpflege
Dass Leiningers Konzept nicht übertragbar ist, hat sich in Deutschland sehr schnell gezeigt. Einiges hat sich seither in der deutschen Pflegeszene getan: Bei der Entwicklung neuer Pflegekonzepte wurden vermehrt die Faktoren Kultur und Migration berücksichtigt. Ursache dafür war die sich aus der Perspektive deutscher Pflegekräfte zuweilen problematisch gestaltende Pflege der in Deutschland lebenden, alt gewordenen Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter. Doch auch diese Perspektive wurde mittlerweile erweitert. Heute geht es nicht mehr nur um die Pflege dieser Personengruppe, sondern ganz allgemein um die Pflege von Menschen mit Migrationshintergrund. Zählt man auch Fluchterlebnisse oder den Wegzug vom Land in die Stadt als Migration, bekommt man es mit einem sehr großen Personenkreis zu tun. Zu einer interkulturellen Pflegesituation kommt es auch, wenn Migranten und Migrantinnen in der Altenpflege beschäftigt sind.
Beziehungsebene als Ressource der Altenpflege
Das Spektrum einer interkulturellen Altenpflege ist also vielseitig, und in der Altenpflege in Deutschland tut eine interkulturelle Öffnung not. Sie muss sich sowohl auf die Einrichtungen: ambulante Pflegedienste, Alten- und Pflegeheime als auch auf die Personalentwicklung beziehen. Hierfür ist eine Herausbildung interkultureller Kompetenz notwendig, zu der unter anderem die Fähigkeit gehört, die Beziehungsebene zwischen Pflegepersonal und Klienten sinnvoll und menschenwürdig zu gestalten. Die Altenpflege hat also eine Ressource, aus der sie schöpfen kann. Neben Faktenwissen zum Thema Migration und Gesundheit, kommen nach Matilde Grünhage-Monetti, Deutsches Institut für Erwachsenenbildung, Frankfurt/M., noch verschiedene weiche Faktoren dazu wie Interaktionsfreudigkeit, Ambiguitätsfähigkeit (die Fähigkeit, Widersprüchliches stehen lassen zu können), Erkennen und Vermeiden von Vorurteilen sowie eine Bewusstheit der eigenen Kultur und die Einsicht in die Relativität von Weltinterpretationen. Natürlich sind auch Sprachkenntnisse Bestandteil interkultureller Kompetenz.
Bewegung in der deutschen Altenpflege
Der Öffnungsprozess in der deutschen Altenpflege und -hilfe ist in vollem Gange. Eine Vielzahl von Projekten beschäftigt sich mit den unterschiedlichen Aspekten der interkulturellen Öffnung. Dabei entstehen neue Netzwerke zwischen Migrantenorganisationen, Einrichtungen der Altenhilfe, den Kommunen und Wohlfahrtsverbänden. Das Projekt „Älter werden in Deutschland“ hat sich beispielsweise zum Ziel gesetzt, älteren Migrantinnen und Migranten das Altenhilfesystem in Deutschland nahe zu bringen, da hier ein Informationsdefizit festgestellt wurde. Am Arbeitszentrum Fort- und Weiterbildung afw des Elisabethenstiftes in Darmstadt beschäftigte man sich im Rahmen des EU-Projekts NOW fünf Jahre lang mit dem „Praxisfeld interkulturelle Altenpflege“. Ein daraus entstandener bundesweiter interdisziplinärer Arbeitskreis entwickelt jetzt eine „Charta für eine kultursensible Altenpflege“.
Als eines der Pilotprojekte für eine bewusste und zielgerichtete interkulturelle Öffnung gilt das multikulturelle Seniorenzentrum „Haus am Sandberg“ in Duisburg. Auch der aus privater Initiative ins Leben gerufene „Transkulturelle Pflegedienst“ in Hannover agiert mit dem Ziel, die Versorgungssituation alter Migrantinnen und Migranten zu verbessern.
Interkulturalität in der Altenpflegeausbildung
Was aber die Ausbildungssituation von Altenpflegerinnen und Altenpflegern betrifft, kommt das Thema Interkulturalität oder kulturelle Sensibilisierung zu kurz. Aus diesem Grund startete am Deutschen Institut für Erwachsenenbildung (DIE) zu Jahresbeginn das Projekt „[iku:] Interkulturelle Fortbildungen für das Personal in der Altenpflege“. Ziel dieses Projekts ist es, speziell für Lehr- und Leitungskräfte Fortbildungskonzepte zu entwickeln und zu erproben, welche die Bereiche interkulturelles Lehren und Lernen und interkulturelles Management in der Altenpflege umfassen. Dazu gehört unter anderem das Unterrichten in multikulturellen Klassen oder auch das Leiten von multikulturellen Teams. Dazu kooperiert das DIE mit pflegewissenschaftlichen Studiengängen an Fachhochschulen sowie mit Fort- und Weiterbildungseinrichtungen der Altenpflege. Auf diesem Wege soll ein Beitrag zur interkulturellen Öffnung dieser Institutionen geleistet werden. Zum Ende der Projektlaufzeit im Oktober 2003 ist die Veröffentlichung der Ergebnisse geplant.
Weitere Informationen: Michaela Zalucki, Deutsches Institut für Erwachsenenbildung (DIE), Außenstelle Bonn, Postfach 12 01 04, 53043 Bonn, Fon 02 28/24 99 13-14 66, Fax -1499, E-Mail zalucki@die-frankfurt.de
Das DIE gehört mit 77 anderen außeruniversitären Forschungseinrichtungen zur Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz e.V. (WGL). Das Spektrum der Leibniz-Institute ist breit und reicht von den Natur-, Ingenieur- und Umweltwissenschaften über die Wirtschafts-, Sozial- und Raumwissenschaften bis hin zu den Geisteswissenschaften und Museen mit angeschlossener Forschungsabteilung. Die Institute arbeiten nachfrageorientiert und interdisziplinär. Sie sind von überregionaler Bedeutung, betreiben Vorhaben im gesamtstaatlichen Interesse und werden deshalb von Bund und Ländern gemeinsam gefördert.
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