Geschlechterforschung: Die Quote gab es bereits 1952

Die Gewerkschaft ver.di hat fast drei Millionen Mitglieder, die Hälfte davon sind Frauen. Die ÖTV hat in den letzten Jahren einiges dazu beigetragen, gewerkschaftliche Geschlechterpolitik, die mehr sein will als reine Frauenpolitik, salonfähig zu machen. Doch der Weg war nicht ohne Hürden. Am Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung (ZIFG) der TU Berlin wurde die emanzipatorische Geschlechterpolitik von 1949 bis 1989 untersucht.

Die Rolle von Frauen in Gewerkschaften ist in der historischen Forschung immer noch unterbelichtet. Noch können Zeitzeugen befragt werden, die die ersten Jahre mitgestaltet haben. Genau das tat die Historikerin Dr. Brigitte Kassel von der TU Berlin. Darüber hinaus durchforstete sie das unerschöpfliche ÖTV-Archiv in Stuttgart auf Frauenpolitik und deren Akteurinnen. Grundannahme der Untersuchung ist, dass Organisationen Interaktionszusammenhänge konkreter Menschen sind, die in der Organisation ihre Interessen und Konflikte aushandeln. Auch die Geschlechterbeziehungen sind Teil dieses Prozesses. Die Chancen von Frauen, dort gestaltend einzugreifen, sind u.a. abhängig von ihrem quantitativen Gewicht; sie erhöhen sich, wenn Frauen Netzwerke bilden. Geschlechter- und Machtverhältnisse können aber auch von außen durch gesellschaftliche und soziale Bewegungen beeinflusst werden. Vor allem aber gilt es, in der Phase des Aufbaus, wenn Strukturen noch nicht festgezurrt sind, Einfluss zu nehmen und Positionen zu besetzen.
Vor diesem Hintergrund wurde der Frage nachgegangen, wie sich die geschlechtsspezifische Aufspaltung von Interessen in der Politik der ÖTV seit ihrer Gründung im Januar 1949 bis 1989 niederschlug. Analysiert wurden u. a. die Organisationsstrukturen. Bereits bei ihrer Gründung sah die ÖTV besondere Strukturen für die gewerkschaftliche Frauenarbeit mit Frauenausschüssen und Frauenkonferenzen vor. Viele dürfte es überraschen, dass bereits 1952 eine Quotenregelung eingeführt wurde. Diese war zwar unverbindlich, trotzdem war die ÖTV damit Vorreiterin. „So viel Anfang war nie“, charakterisierte denn auch eine Zeitzeugin die Stimmung der ersten Gewerkschafterinnen-Generation.
In den 60er Jahren wurde diese allmählich abgelöst. Ihr folgten jüngere Frauen, die die Frage der Gleichberechtigung anders sahen. Sie profitierten von der Bildungsexpansion; ihre Ansprüche auf qualifizierte Erwerbstätigkeit wuchsen; sie wollten es den Männern gleichtun. Das gesellschaftliche Klima weckte gerade bei Jüngeren die Erwartung, dass ihnen nun alle Türen, auch in der Gewerkschaft, offen stünden. Besondere Regelungen für die Beteiligung von Frauen schienen verzichtbar. Deshalb gab es auch keinen Aufschrei, als 1968 die Frauenkonferenzen abgeschafft und die Quotenregelung gestrichen wurden. Erst als die Gewerkschafterinnen ihre Hoffnungen auf mehr Beteiligung und Gleichberechtigung nachhaltig enttäuscht sahen, machten sie in den 80er Jahren Frauenpolitik erneut zum Thema. Indirekt wirkte sich dabei sicher auch der Einfluss der in den 70er Jahren entstandenen neuen Frauenbewegung aus. Zentrales Thema der 80er Jahre wurden die Einrichtung von Gleichstellungsstellen und die Entwicklung von Frauenförderplänen. Diese Art der Förderung konzentrierte sich anfangs zwar auf die öffentlichen Verwaltungen. Doch um glaubwürdig zu bleiben, konnte die ÖTV nicht umhin, auch innerhalb Frauenförderung zu betreiben. So kam es, dass Ende der 80er Jahre die Strukturen gewerkschaftlicher Frauenarbeit von 1952 wieder neu erfunden wurden: Frauenkonferenzen und eine Frauen-Soll-Quote und 1992 wurde die
Soll-Quote in der ÖTV in eine Muss-Quote verschärft.
Den Gewerkschafterinnen der Aufbaujahre fiel es nicht schwer, das Recht der erwerbstätigen Frauen auf einen bezahlten freien Hausarbeitstag im Monat zu verteidigen. Erwerbstätige Frauen waren schließlich durch Haushalts- und Familienarbeit erheblich zusätzlich belastet. Die Debatte über Teilzeitarbeit in den 70er Jahren zeigte dann, wie immer stärker die Gleichheit der Geschlechter durchgesetzt wurde. Eine vollständige Emanzipation war nur über Vollzeiterwerbsarbeit möglich, denn nur diese versprach die Chance auf eine eigenständige, vom Mann unabhängige Existenz. Übersehen wurde, dass sich das „Normalarbeitsverhältnis“ angesichts steigender Arbeitslosigkeit allmählich zum Auslaufmodell entwickelte. Seit den späten 90er Jahren ist nun das Konzept des Gender Mainstreaming, also die Berücksichtigung der Geschlechterperspektive in allen Politikfeldern, zum leitenden Prinzip der gewerkschaftlichen Frauen- und Geschlechterpolitik avanciert.

Datenbank
Ansprechpartner: Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung, TU Berlin, Dr. Brigitte Kassel
Kontakt: Ernst-Reuter-Platz 7, 10587 Berlin, Tel.: 030/314-26974, Fax: 030/314-26988, E-Mail: brigitte.kassel@t-online.de, Internet: http://www.kgw.tu-berlin.de/zifg, Brigitte Kassel: … letztlich ging es doch voran! Zur Frauenpolitik der Gewerkschaft ÖTV 1949-1989, hg. v. ver.di – Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft e.V. und Hans-Böckler-Stiftung, Stuttgart 2001. Zu beziehen ist die Arbeit über die Gewerkschaft.
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Projekt: Die Frauenpolitik der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr von 1945/1949 bis Ende der achtziger Jahre. Leitung: Prof. Dr. Karin Hausen
Fachgebiet: Geschlechterforschung, Geschichtswissenschaft, Gewerkschaftsgeschichte
Förderung: Hans-Böckler-Stiftung (HBS); Gewerkschaft ÖTV, Hauptvorstand, Stuttgart

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