35 Arbeitsgruppen gründen Initiative "Biomolekulare Maschinen"
Gruppen aus den Universitäten Heidelberg und Mannheim, dem Deutschen Krebsforschungszentrum, Max-Planck-Institut für Medizinische Forschung und Europäischen Laboratorium für Molekularbiologie erforschen biomolekulare Maschinen und biomolekulare Mikroskopie
In Heidelberg haben sich 35 Arbeitsgruppen aus der Bioregion Rhein-Neckar zur „BMM-Initiative“ zusammengeschlossen. BMM steht für „Biomolekulare Maschinen/Biomolekulare Mikroskopie“ und umschreibt ein äußerst innovatives neues Forschungsgebiet. Beteiligt sind die Universitäten Heidelberg und Mannheim, das Deutsche Krebsforschungszentrum, das Max-Planck-Institut für Medizinische Forschung und das Europäische Laboratorium für Molekularbiologie. Ziel ist die quantitative Analyse und Modellierung von „Biomolekularen Maschinen“ in vitro (außerhalb der Zelle) und in vivo (in der lebenden Zelle selbst). Dabei kommt neuen Verfahren der lichtoptischen Analyse („Biomolekulare Mikroskopie“) und der Computersimulation eine besondere Bedeutung zu. Kürzlich fand in Heidelberg das erste Symposium der BMM-Initiative statt. Koordinator Prof. Dr. Dr. Christoph Cremer stellt in dem folgenden Text die Initiative als neues Integrationskonzept in den Lebenswissenschaften vor.
Zielsetzung
Gesundheit ist eines der wichtigsten Güter des Menschen. Sie ist wesentliche Voraussetzung und Hilfe für ein menschenwürdiges Leben des Einzelnen und sein Streben nach Glück. Sie ist von grundlegender Bedeutung auch für das Gemeinwohl und die Basis für den wirtschaftlichen Erfolg und das Kulturleben. In den modernen Industriestaaten wird ein erheblicher Teil des Bruttosozialprodukts für ihre Erhaltung aufgewandt, mit ständig steigendem Anteil. Denn die Gesundheit ist in vielfacher Weise gefährdet, durch äußere und innere Einflüsse.
Zu den äußeren Einflüssen zählen zum Beispiel ionisierende Strahlen, wie sie von radioaktiven Substanzen ausgehen, zahlreiche chemische Agentien, aber auch ultraviolette Strahlen. Infektionskrankheiten, verursacht z.B. durch Bakterien oder durch Viren, sind auch heute noch eine der größten Bedrohungen der Gesundheit.
Zu den inneren Einflüssen, die die Gesundheit gefährden, zählen vielfältige Veränderungen der Erbinformation, die bereits in der Eizelle bestanden, aus der dann durch vielfältige und differenzierende Zellteilungen die einige hundert verschiedenen Gewebe eines Menschen hervorgehen. Eine Reihe dieser Veränderungen können zu gravierenden Störungen bereits in der frühen Entwicklung führen; andere wirken sich erst im späteren Leben aus, zum Beispiel durch eine erhöhte Empfindlichkeit gegenüber der krebsauslösenden Wirkung von Umweltfaktoren, oder durch Degenerationserscheinungen des Nervensystems.
Was haben alle diese Krankheiten und Gefährdungen der Gesundheit gemeinsam? Bei allen spielen „Biomolekulare Maschinen“ in der einen oder anderen Weise eine wesentliche Rolle. Dabei handelt es sich um hochkomplexe „Nanostrukturen“, die in den Zellen des Körpers spezifische Funktionen erfüllen. Ihre Größe liegt mit zehn millionstel bis einigen hundert millionstel Millimetern (10 bis einige hundert Nanometer) weit unterhalb der lichtmikroskopischen Auflösung; selbst bei der stärksten Vergrößerung würden sie daher nur als leuchtende Punkte sichtbar gemacht werden können.
Dennoch sind sie wie Maschinen in der sichtbaren „Makrowelt“ hochstrukturierte Gebilde mit komplexer Architektur, die sie zur Erfüllung spezifischer Aufgaben befähigen: Typischerweise bestehen sie aus mehreren bis vielen Makromolekülen, mit insgesamt vielen tausend bis Millionen von Atomen, die in einer bestimmten Weise im Raum angeordnet sind und die ihrer Aufgabe gemäß ihre räumliche Position in dynamischer Weise verändern; ebenso wie Maschinen der Makrowelt dienen sie ganz spezifischen Zwecken; wie Maschinen der Makrowelt benötigen sie für die Erfüllung dynamischer Aufgaben Energie; ebenso wie Maschinen der Makrowelt bestehen sie aus mehreren bis zahlreichen, genau aufeinander abgestimmten Elementen, die ihrerseits wiederum hochkomplexe Strukturen sind; wie Maschinen der Makrowelt erfüllen sie ihren spezifischen Zweck nur als Ganzes: Werden Teile herausgenommen oder willkürlich verändert, so sind sie nicht mehr oder nur noch teilweise einsatzfähig; ebenso wie bei Maschinen der Makrowelt kann die Funktion allein aus der Kenntnis der Einzelteile nur in begrenzter Weise vorhergesagt werden; wie Maschinen der Makrowelt können sie durch Signale in ihrer Struktur verändert und damit angeschaltet oder abgeschaltet werden; wie viele Maschinen der Makrowelt erlauben sie die Produktion anderer Maschinen, und wie dort sind sie in einen kooperativen Verbund anderer Maschinen einbezogen; wie Maschinen der Makrowelt entstehen sie nicht durch „Zufall“, sondern aufgrund vorausgehender „Produktionspläne“, die in den Chromosomen gespeichert sind. Während jedoch die vom menschlichen Geist entworfenen Maschinen von Anfang an auf bestimmte Zwecke hin konstruiert werden, sind die natürlichen Biomolekularen Maschinen das Ergebnis der chemischen und biologischen Evolution.
Die normale Entwicklung eines komplexen Organismus ist nur mit Hilfe solcher „Nanomaschinen“ möglich:
- Ohne die Biomolekularen Maschinen der Nukleosomen könnte sich die zwei Meter lange DNA in den Zellen des Körpers nicht in der Weise falten, dass sie in einem Raum von wenigen tausendstel Millimetern Durchmesser so untergebracht werden kann, dass sie ihre Aufgabe als Informationszentrum erfüllen kann.
- Ohne die Biomolekularen Maschinen der DNA-Replikation könnte keine Zelle die in der DNA gespeicherte Erbinformation verdoppeln; diese Verdopplung aber ist die zwingende Voraussetzung für die vielfältigen Zellteilungen, die erst die Entwicklung eines Menschen aus einer einzelnen Zelle ermöglichen, und die es dem Erwachsenen gestatten, seine Haut, sein Blut und viele andere Gewebe zu erneuern.
- Ohne die Biomolekularen Maschinen der DNA-Reparatur könnten die Zellen Schäden an der DNA nicht reparieren, die durch Umweltagentien, durch Altern, oder auch durch den normalen Ablauf der zellulären Funktionen ausgelöst werden.
- Ohne die Biomolekularen Maschinen der Transkription könnte die Erbinformation in der DNA nicht in die Boteninformationsmoleküle umgeschrieben werden, mit deren Hilfe spezifische Proteine für die vielfältigen Lebensaufgaben der Zelle und des Organismus gebildet werden.
- Ohne die Biomolekularen Maschinen der Transkriptionsregulation könnte die Zelle ihr riesiges Informationsarsenal von mindestens 30 000 Genen nicht in der richtigen Reihenfolge, mit der richtigen Intensität und in den richtigen Zelltypen der Gewebe aktivieren, oder Gene zum Schweigen bringen, deren Aufgabe erfüllt ist.
- Ohne die Biomolekularen Maschinen der RNA-Prozessierung könnten die an der DNA abgelesenen Ribonukleinsäuremoleküle (RNA) nicht so umgeformt werden, dass aus ihnen die richtigen Proteine gebildet werden können.
- Ohne die Biomolekularen Maschinen der Kernporenkomplexe könnten die zur Proteinsynthese benötigten Boten-Ribonukleinsäuremoleküle erst gar nicht aus dem Inneren der Zelle, dem Kern, in das umgebende Cytoplasma gelangen, wo ihre Boteninformation zur Produktion spezifischer Proteine dient.
- Ohne die Biomolekularen Maschinen der Ribosomen würde die Boteninformation nicht in die Produktion von räumlich in spezifischer Weise gefalteten Proteinen umgesetzt werden können, die entweder einzeln ihre Wirkung entfalten, oder die sich mit anderen Proteinen zu Biomolekularen Maschinen verbinden.
- Ohne die Biomolekularen Maschinen des Proteinabbaus würden die in den Ribosomen gebildeten Proteine auch dann noch ihre Wirksamkeit weiter entfalten, wenn dies für das Leben der Zelle oder des Organismus gar nicht mehr notwendig oder sogar schädlich ist. Die diesen kontrollierten Proteinabbau bewirkenden Proteasomen erreichen in ihrer strukturellen Komplexität denjenigen der Proteinbiosynthese in den Ribosomen.
- Ohne die Biomolekularen Maschinen der Zellmembran könnte der lebenswichtige Stofftransport aus der Zelle heraus und in die Zelle hinein nicht in der erforderlichen hochselektiven Weise stattfinden, wie es nicht nur für biochemische Grundvorgänge, sondern auch für die Funktion des Zentralnervensystems notwendig ist.
- Ohne die Biomolekularen Maschinen der Zell-Zell-Kommunikation würden die tausende von Milliarden Zellen des Körpers nicht miteinander in der für den Aufbau des hochkomplexen menschlichen Organismus und seines noch komplexeren Gehirns notwendigen Weise interagieren können.
Diese wenigen Beispiele machen deutlich, dass Biomolekulare Maschinen eine fundamentale Grundlage der Lebensvorgänge bilden. Treten Veränderungen in den sie bildenden Untereinheiten auf, so kann dies gravierende Wirkungen für Leben und Gesundheit haben. Die weitere Erforschung ihrer Struktur und Dynamik zählt daher zu den wichtigen Zukunftsaufgaben der Lebenswissenschaften: Nach der „Genomics“, der Analyse der Abfolge der Basen in der DNA-Kette einer Zelle, und der „Proteomics“, der Analyse der Strukturen der aufgrund der DNA-Information gebildeten Proteine, geht es nunmehr um die Begründung einer „Structeomics“, einer Analyse der wichtigen supramolekularen Strukturen einer Zelle.
Die Heidelberger BMM-Initiative
Biomolekulare Maschinen sind vermutlich die komplexesten „Nano“-Gebilde der uns bekannten Natur.
Die Aufgabe einer adäquaten Analyse hochkomplexer Biomolekularer Maschinen übersteigt bei weitem die Möglichkeiten eines einzelnen Wissenschaftlers, einer einzelnen Arbeitsgruppe oder eines einzelnen Instituts. Sie kann nur gelöst werden, wenn die Gesamtaufgabe in einzelne Unteraufgaben zerlegt und anschließend in einem Netzwerk der Kooperation verschiedener Fachgebiete wieder integriert wird.
Notwendig ist die enge Kooperation von Teilnehmergruppen mit physikalischer, biophysikalischer, chemischer, biochemischer, molekularbiologischer, neurobiologischer und zellbiologischer Kompetenz, als auch von Arbeitsgruppen mit innovativer Kompetenz in der mikroskopisch-physikalischen Instrumentation, der digitalen Bildverarbeitung, der Modellierung chemisch reaktiver Systeme mit aktivem und passivem Transport, sowie der Bildverarbeitung, der Bioinformatik und dem Biocomputing, allgemein der Modellierung und Simulation. Zwischen diesen Gruppen ist eine von intensivem gegenseitigem Informationsaustausch getragene interdisziplinäre Vernetzung erforderlich, um die genannte anspruchsvolle Zielsetzung zu realisieren.
Der Standort Heidelberg ist für die Lösung dieser Aufgaben aus nationaler, aber auch aus internationaler Sicht in hervorragender Weise geeignet: Die Bioregion Rhein-Neckar ist eines der führenden Zentren der biologischen und biomedizinischen Forschung sowie des wissenschaftlichen Rechnens in Deutschland.
Im Bereich der Molekularen Biophysik/Bioinformatik fehlt hier jedoch noch eine solche Konzentration der Forschungsaktivitäten, wie sie z.B. im Clark Center for Biomedical Engineering & Sciences an der Stanford University erreicht wird. Um das in der Bioregion bestehende große Potenzial besser zu nutzen, wurde im Dezember 2000 die Schaffung eines Kompetenz-Netzwerkes „Biomolekulare Maschinen“ (BMM) vorgeschlagen, mit dem Ziel einer quantitativen Analyse und Modellierung dieser supramolekularen biologischen Komplexe in vitro und in vivo. Das sollte so konzipiert werden, dass es die BMM-relevanten Aktivitäten der bestehenden Zentren der Universität Heidelberg, der Universität Mannheim und sonstiger relevanter Einrichtungen in synergistischer Weise ergänzt und steigert, und auf diese Weise dazu beiträgt, eine Art „Forschungsdach“ im Bereich der Lebenswissenschaften in Heidelberg zu bilden.
Zur organisatorischen Unterstützung der BMM-Initiative wurde ein „Steering-Committee“ gewählt, dem derzeit von Seiten der interessierten Wissenschaftler/innen der Universität Heidelberg angehören: Prof. K. Beyreuther; Prof. C. Cremer (Koordinator); Prof. J. Smith; Prof. F. Wieland; Prof. J. Wolfrum; Dr. W. Denk von Seiten des Max-Planck-Instituts für Medizinische Forschung; Prof. I. Grummt von Seiten des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ); Privat-Dozent Dr. J. Hesser von Seiten der Universität Mannheim; Dr. E.H.K. Stelzer von Seiten des European Molecular Biology Laboratory (EMBL).
Als Anlauffinanzierung für die BMM-Initiative wurde im April 2001 der Universität Heidelberg ein Forschungsschwerpunktprogramm Baden-Württemberg bewilligt. In den Jahren 2001 – 2003 sollen hierin unter dem Titel „Nanoskopie von Biomolekülen“ wichtige methodische Grundlagen für die geplante lichtoptische Analyse Biomolekularer Maschinen weiterentwickelt werden. Teilnehmer dieses Forschungsschwerpunktprogramms sind Prof. Annemarie Pucci und Prof. Christoph Cremer vom Kirchhoff-Institut für Physik; Prof. Michael Grunze/Dr. Armin Gölzhäuser und Prof. Jürgen Wolfrum/Dr. Markus Sauer vom Physikalisch-Chemischen Institut.
Weitere Fördermöglichkeiten ergeben sich im Rahmen des im Mai 2001 vom Senat der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) beschlossenen Schwerpunktprogramms zum Thema „Optische Analyse der Struktur und Dynamik supramolekularer biologischer Komplexe“ (SPP 1128), das ab 2002 eingerichtet wird (Koordinator Prof. C. Cremer), und an dessen Vorbereitung etwa zehn Arbeitsgruppen aus dem Bereich der Heidelberger BMM-Initiative beteiligt waren.
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