Unbewusst weiß die Hand, wie sie greifen muss
Psychologen untersuchen, wie Sinneswahrnehmung und Handlungen gekoppelt sind Ein Tennisball saust auf den Spieler zu. Der holt im richtigen Moment mit seinem Schläger aus und spielt den Ball zurück. Nichts leichter als das, wird vielleicht ein geübter Tennisspieler sagen. Der Vorgang ist kompliziert und bis heute noch nicht richtig erforscht, setzen Psychologen dagegen. Denn schon bei relativ einfachen Handlungen wie Ballspielen oder Autofahren muss ständig eine komplizierte Koppelung zwischen Wahrnehmung und Handlung erfolgen. Dies lässt sich in einem Zyklus beschreiben: Auf eine Wahrnehmung wie das Näherkommen des Tennisballes, folgt eine motorische Ausführung oder Handlung – der Schlag. Daraus ergibt sich ein verändertes Umfeld, der Zyklus beginnt wiederum mit einer Wahrnehmung, auf die eine Handlung folgt. Diesen Wahrnehmungs-Handlungs-Zyklus untersucht der Psychologe Prof. Rolf Ulrich von der Universität Tübingen mit Experimenten zur Reaktionszeit von Versuchspersonen bei unterschiedlichen Aufgaben und der Veränderung ihrer Reaktionen unter Zeitdruck.
Noch Johannes Müller, der im 18. Jahrhundert die menschlichen Sinne erforschte, dachte, dass die Wahrnehmung extrem schnell abläuft, vergleichbar mit der Lichtgeschwindigkeit. Der Physiker und Physiologe Hermann von Helmholtz stellte jedoch 1850 bei Untersuchungen an der Nervenleitung im Froschschenkel fest, dass dem nicht so ist. Vielmehr weiß man heute, dass die Reizleitung in den Nerven Zeit braucht und sogar viel langsamer als die Schallgeschwindigkeit ist. „Die Frage ‚Wie lange dauert Wahrnehmung?‘ war so gesehen die erste Forschungsfrage in der Psychologie, das waren nicht etwa die psychoanalytischen Fragen“, sagt Ulrich. Die Messung des Zeitbedarfs mentaler Prozesse wurde durch eine Entwicklung des Reutlinger Uhrmachers und Mechanikers Matthaeus Hipp (1813 – 1893) möglich, der 1840 das nach ihm benannte „Hippsche Chronoskop“ baute. Damit ließen sich Reaktionszeiten von der Präsentation eines Signals bis zur Ausführung einer bestimmten Tätigkeit messen. „Das Auflösungsvermögen dieser Apparatur ging bis in den Millisekundenbereich und war damit fast so gut wie bei heutigen Geräten“, sagt Ulrich.
Die Prozesse, um die es im Wahrnehmungs-Handlungs-Zyklus geht, sind nicht direkt beobachtbar. „Selbst wenn man ins Gehirn hineinschauen könnte, wären sie nicht zu sehen, sondern man braucht hier in der Kognitiven Psychologie experimentell überprüfbare Hypothesen und Theorien, um den Verhältnissen auf die Sprünge zu kommen“, sagt der Psychologe. Bei einfachen Handlungen sei die bewusste Wahrnehmung wahrscheinlich nicht in den Zyklus involviert. Es gibt Patienten, deren Gehirn in bestimmten Regionen funktionsunfähig wurde. „Beispiele in der Literatur besagen, dass manche Personen zum Beispiel keine Objekte mehr benennen können, etwa eine Kugel oder eine Pyramide. Daraus wurde der Schluss gezogen, diesen Personen fehle die Wahrnehmung“, erläutert Ulrich. Wenn man sie aber auffordere, das Objekt zu ergreifen, zeige sich, dass ihr Handgriff den optimalen Schwerpunkt des Objektes vorwegnehme. „Die Hand ‚weiß‘ also, wie sie greifen muss“, sagt Ulrich. Der Psychologe schließt daraus, dass es bei ihnen eine intakte Bahn im Zyklus von Wahrnehmung und Motorik geben muss, die vermutlich ohne bewusste Wahrnehmung funktioniert. Auch stammesgeschichtlich könne man sich vorstellen, dass zur optimalen Steuerung der Motorik ein Anpassungsdruck in Richtung einer direkten Koppelung mit der Wahrnehmung ging. „Solche stammesgeschichtlich alten Wahrnehmungspfade existieren auch im Gehirn von gesunden Menschen“, meint der Psychologe.
Diese Wahrnehmungspfade untersucht seine Arbeitsgruppe mit Methoden der Chronopsychophysiologie. Bei der Untersuchung werden Reaktionszeiten von der Wahrnehmung bis zum Beginn einer Handlung gemessen, etwa in einem Experiment einem Knopfdruck mit der linken Hand, wenn ein „x“ auf dem Bildschirm erscheint, der rechten Hand, wenn ein „y“ erscheint. Die Psychologen versuchen dann, auf die motorischen und sensorischen Prozesse zurückzuschließen. „Wenn Versuchspersonen unter Zeitdruck gesetzt werden, müssen und können die Prozesse auch schneller ablaufen. Frage ist dann: Wo wird die Zeit gespart, bei der Wahrnehmung, bei der Motorik oder bei beidem?“
Die Untersuchungen werden vielfach an einem Elektroenzephalogramm (EEG) verfolgt, das die Hirnströme in bestimmten Bereichen des Gehirns misst. Die Reaktionen bei der Handbewegung sind kontralateral, das heißt, bei Bewegung der linken Hand registriert die Elektrode der rechten Kopfseite einen Ausschlag im EEG. „Der Zyklus läuft wohl folgendermaßen ab: Die Versuchsperson nimmt ein „x“ auf dem Bildschirm wahr, das dauert etwa eine Viertel Sekunde. Dann wird die Frage beantwortet: ‚Was bei x tun?‘, worauf die Entscheidung folgt, dass mit der linken Hand zu reagieren ist. Die Motorik zu aktivieren, dauert noch einmal 200 bis 300 Tausendstel Sekunden. Dann erst wird die Aktion von außen erkennbar“, beschreibt Ulrich den Prozess. Der Psychologe stellt jedoch bereits vorher an einem Ausschlag des EEG fest, wann die Auswahl der richtigen Hand der Versuchsperson getroffen ist. „Lateralisiertes Bereitschaftspotenzial“ nennt Ulrich diesen Zeitmarker, der die Reaktionszeit in zwei Teile, vor und nach der Handauswahl, teilt. Wenn bestimmte Anforderungen an die Versuchsperson gestellt werden, verkürzt sich die Reaktionszeit. „Früher glaubte man, dass die Motorik schneller abläuft, aber Versuchspersonen können auch die Wahrnehmungsprozesse unbewusst beschleunigen“, sagt Ulrich. Wie das geht, sei unklar. Ulrichs Untersuchungen gehören in den Bereich der Grundlagenforschung, er ist an den Reaktionen gesunder Menschen, am Durchschnitt, interessiert. „Die Erkenntnisse gehen jedoch auch schnell in die klinisch-psychologische Forschung ein, zum Beispiel bei der Parkinsonschen Krankheit, bei der die Patienten verzögert reagieren“, sagt Ulrich, der unter anderem mit Arbeitsgruppen in England, Neuseeland und den USA kooperiert.
Wenn in den Wahrnehmungs-Handlungs-Zyklus die Vorbereitung als neuer Faktor eingeführt wird, läuft er schneller ab. Bekommt zum Beispiel eine Versuchsperson die Information, gleich erscheine ein ‚x‘ auf dem Bildschirm, kann sie schneller richtig reagieren. „Im Alltag treten räumliche und zeitliche Vorbereitung häufig zusammen auf, im Experiment lassen sie sich trennen“, erklärt Ulrich. Eine typische Situation einer räumlichen Vorbereitung besteht zum Beispiel für den Fußballtorwart beim Elfmeter. Der Torwart sieht den Spieler anlaufen und weiß daher, wann der Ball abgeschlagen wird, er weiß aber nicht, ob der Ball nach links oder nach rechts springt. Zeitliche Vorbereitung hat zum Beispiel ein Sprinter in den Startlöchern beim Hundertmeterlauf: Er weiß genau, was er beim Startschuss ausführen muss, aber nicht genau, wann der Startschuss kommt. „Wir haben festgestellt, dass sich sowohl die Wahrnehmung als auch die Handlung beschleunigen lassen. Bei räumlicher Vorbereitung ist es eher die Motorik, bei der zeitlichen Vorbereitung die Wahrnehmung“, sagt der Psychologe. (7029 Zeichen)
Nähere Informationen:
Prof. Rolf Ulrich
Psychologisches Institut
Friedrichstraße 21
72072 Tübingen
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