Die Mathematik der Sinne
Max-Planck-Forscher weisen nach, dass unser Gehirn visuelle und haptische Eindrücke statistisch optimal zusammenführt
Der Mensch nutzt alle Sinne, um Objekte wahrzunehmen. So können wir einen Apfel hören, wenn er zu Boden fällt, ihn liegen sehen, in die Hand nehmen und aufheben, daran riechen und dann hineinbeißen. All diese Sinneseindrücke integriert unser Gehirn zur komplexen Wahrnehmung des Apfels. Welche der Sinnesdaten dafür gerade entscheidend sind, hängt davon ab, was wir mit dem Objekt weiter vorhaben. Möchten wir nur die Größe beurteilen, so sind wir eher visuell orientiert, wollen wir hingegen die Rauheit seiner Oberfläche abschätzen, ist unser Tastsinn der bessere Ratgeber. Je nach Fragestellung geben wir also den Sinnesdaten, die Augen und Hände liefern, unterschiedliches Gewicht – und zwar abhängig davon, wie verlässlich diese Eindrücke sind. Marc Ernst vom Tübinger Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik hat jetzt zusammen mit seinem Kollegen Martin Banks von der University of California in Berkeley herausgefunden, dass unser Gehirn bei der Verrechnung der visuellen und haptischen Sinneseindrücke eindeutig nach statistisch optimalen Maßstäben vorgeht (nature, 24. Januar 2002).
So wie physikalische Messgeräte immer eine kleine Fehlertoleranz haben, sind auch unsere Sinnesorgane nicht perfekt: Alle dem Gehirn gemeldeten Eindrücke sind auf ihre Art mehr oder weniger „verrauscht“. Bei der Wahrnehmung sollte das Gehirn jedoch alle zur Verfügung stehenden Informationsquellen möglichst optimal nutzen. Dass unsere Hände auch als „Sehhilfen“ dienen können, manuelles Abtasten die visuelle Wahrnehmung also gezielt und nachhaltig beeinflusst, hatten die Forscher bereits in früheren Experimenten nachgewiesen (vgl. PRI B 3 / 2000 (6) – „Wer sehen will, muss fühlen“). Je verrauschter und damit unsicherer die Sinnesdaten z.B. beim Tasten sind, desto weniger Gewicht sollten diese im Wettbewerb mit den anderen Informationsquellen (beispielsweise dem Sehen) bekommen. Mathematisch betrachtet würde ein statistisches Modell, die so genannte Maximum-Likelihood-Schätzmethode, die optimale Kombination liefern, mit der die unterschiedlich verlässlichen Signale zu verrechnen sind, damit das Gesamtrauschen minimiert wird. Nur auf diese Weise könnten alle zur Verfügung stehenden Sinnesinformationen über ein Objekt so sinnvoll wie möglich ausgeschöpft werden.
Die Wissenschaftler haben nun mit folgendem Experiment gezeigt, dass unser Gehirn bei der Wahrnehmung tatsächlich genau so vorgeht wie es ein Mathematiker tun würde: Die Versuchspersonen hatten die Aufgabe, die Größe zweier balkenförmiger Objekte zu vergleichen. Diese Balken konnten sie sowohl sehen als auch betasten. Aus den Fehlern, die die Versuchspersonen beim Vergleichen machen, können die Forscher dann schließen, wie verlässlich die sensorischen Signale der verschiedenen Sinne im Gehirn verarbeitet werden.
„Abb.: Im oberen Teilbild ist die Versuchsapparatur abgebildet, im unteren das Testobjekt. Die Versuchspersonen sehen in einem Spiegel das Testobjekt, das in einem kopfüber aufgehängten Monitor erzeugt wird. Der zu ertastende Balken wird unterhalb des Spiegels mit Hilfe zweier Kraftüberträger (PHANToMs der Firma SensAble Technologies) simuliert. Im unteren Teilbild ist zu sehen, wie mit dieser Apparatur eine Diskrepanz zwischen dem gefühlten und gesehenen Balken erzeugt werden kann. Der „sichtbare“ Balken besteht aus einem Zufallspunktemuster, das mit Rauschen in der Tiefe versehen werden kann, um die Verlässlichkeit des visuellen Signals zu manipulieren“ |
Mithilfe eines trickreichen Versuchsaufbaus, bei dem die Testobjekte virtuell am Computer erzeugt werden, war es den Forschern möglich, das visuell wahrnehmbare und das zu ertastende Objekt unabhängig voneinander zu manipulieren. Sie erzeugten damit eine Diskrepanz zwischen den beiden Objekten und untersuchten dann, ob sich die Versuchspersonen mehr an dem visuellen oder mehr an dem ertasteten Eindruck orientierten. Auf diese Weise ermittelten die Wissenschaftler die Gewichtung der Signale untereinander und stellten fest, dass das Verhalten der Versuchpersonen exakt mit den Vorhersagen des statistischen mathematischen Modells übereinstimmte: War die Größe des Objekts klar und deutlich zu sehen, dominierte der visuelle Eindruck; wurde das Bild jedoch „vernebelt“, indem die Experimentatoren das Zufallspunktemuster, das den Balken im Computer definierte, dreidimensional verrauschten, dominierte die ertastete Größe – und zwar genau in dem Maß, wie vom statistischen Modell vorausgesagt.
Weitere Forschungen am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen sollen nun aufdecken, wie wir diese statistisch optimale Leistung tatsächlich vollbringen und auf welche Weise dieses Zusammenspiel von Sehen und Fühlen im Gehirn neuronal repräsentiert wird.
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