"Science" berichtet: RUB-Forscher entdecken neue visuelle Zellgruppe

Vergleich einer Sakkade (links) und der Simulation einer Sakkade durch ein bewegtes Bild (rechts)

Während der schnellen Augenbewegungen (Sakkaden) sind für den Bruchteil einer Sekunde blind, weil die Wahrnehmung unterdrückt wird. Bochumer Hirnforscher haben eine Zellgruppe entdeckt, die diesen lebenswichtigen Mechanismus im Gehirn aktiviert, damit wir flimmerfrei sehen können. Sie leisten so einen entscheidenden Beitrag zu verstehen, wie das Gehirn Informationen dynamisch verarbeitet. Das Magazin „Science“ berichtet in seiner aktuellen Ausgabe über die Bochumer Forschungsergebnisse.

Blind für den Bruchteil einer Sekunde
Nervenzellen kehren ihre Funktion einfach um
„Science“ berichtet: Neue visuelle Zellgruppe entdeckt

Die schnellsten Bewegungen, die unser Körper machen kann, sind die der Augen – die so genannten Sakkaden. Bochumer Hirnforscher haben nun aben, Ihre Augenbewegung zu sehen.

Stabiles Sehen

Warum sind wir scheinbar blind, wenn unsere Augen solch schnelle Bewegungen machen? Der Grund liegt darin, dass das Gehirn ein stabiles Bild der Umwelt erzeugen muss. Die Wahrnehmung wird während der Sakkade unterdrückt (Fachbegriff: sakkadische Suppression), um flimmerfrei sehen zu können. Der Vergleich mit einem Video verdeutlicht den Clou: Wird bei der Aufnahme die Kamera ständig hin- und herbewegt, entstehen verwackelte Bilder. Permanent sehen wir jedoch feststehende, stabile Bilder, obwohl sich unsere Augen zwei- bis dreimal pro Sekunde bewegen. Würden wir die Welt wahrnehmen mit allen Augenbewegungen, die wir tatsächlich machen, entstünde im Gehirn das gleiche verwackelte Bild wie beim Video.

Dem Rätsel auf der Spur

Wie dieser lebenswichtige Mechanismus funktioniert, diskutieren Forscher schon seit mehr als hundert Jahren. Eine mögliche Erklärung lautete, dass die Gehirnbereiche, die unsere Augen bewegen, eine Warnung in das visuelle System senden (extraretinales Warnsignal), um die Wahrnehmung kurzzeitig zu unterdrücken. Schon früh testeten Neurobiologen diese Annahme mit Affen. In dem damals einzig gut untersuchten Gehirnareal der Sehbahn fanden sie jedoch keine Hinweise darauf, dass die Nervenzellen bei einer Sakkade nichts sehen oder aktiv werden und Warnsignale senden.

Suche im Detail

Des Rätsels Lösung musste also in anderen Arealen liegen, die noch detaillierter Sehinformationen verarbeiten. Solche Zentren im Gehirn, die inzwischen entdeckt wurden, sind hochspezialisiert auf eine oder mehrere Funktionen – z. B. auf Formen, Farben oder Bewegungen. MT (medio temporales Areal) und MST (medio-superior temporales Areal) sind solche Areale, die im Gehirn von Primaten vorkommen und auf komplexe Bewegungsinformationen spezialisiert sind. Hier setzte Klaus-Peter Hoffmann mit seinem Team an, um in Experimenten mit Affen den Sakkaden auf den Grund zu gehen.

Experiment mit Primaten

Die Affen sollten einen unbewegten Punkt vor buntem Hintergrund ansehen und dann die Augen auf einen zweiten Lichtpunkt bewegen, also eine typische Sakkaden-Bewegung machen. In einem zweiten Versuchsteil blickten die Affen wieder auf einen still stehenden Lichtpunkt, lediglich der Hintergrund bewegte sich – damit simulierten die Forscher die Bildverschiebung, die sich bei der Sakkade im Auge ergibt. Nun kam es darauf an, welche Nervenzellen die beiden Aktivitäten – Bewegung der Augen und Bewegung des Hintergrunds – unterscheiden konnten.

Erstaunliche Entdeckung

Die Neurobiologen entdecken in den Arealen MT und MST Neuronen der besonderen Art, die auf eine bestimmte Bewegungsrichtung spezialisiert sind, diese Orientierung während einer Sakkade jedoch umkehren können. Sind es Nervenzellen, die beispielsweise bevorzugt auf Bewegungen nach rechts reagieren, so reagieren sie während der Sakkade auf Bewegungen nach links, sie drehen ihre Richtungsspezialisierung einfach um. Wird dieses Signal vermischt mit dem anderer Nervenzellen, die ihre Bewegungsausrichtung beibehalten, so kann das Gehirn die widersprüchlichen Informationen nicht mehr eindeutig interpretieren. Die Folge: Es nimmt gar kein bewegtes Bild wahr.

Dynamisches Gehirn

Damit vermuten die Bochumer Neurobiologen, den Mechanismus gefunden zu haben, der die Wahrnehmung der Bildbewegung bei Sakkaden unterdrückt. Diese Erkenntnis ist von zentraler Bedeutung für die Hirnforschung: Vor diesen Experimenten ging die Neurobiologie davon aus, dass Nervenzellen ihre Vorzugsrichtung für bewegte Reize nicht ändern. Das neue Forschungsergebnis zeigt nun, dass eine extraretinale Information Nervenzellen in der Sehbahn dazu bringen kann, ihre ursprüngliche Funktion kurzzeitig umzukehren. Die gefundene Zellgruppe in den Arealen MT und MST ist ein anschauliches Beispiel, wie unser Gehirn Informationen dynamisch verarbeitet.

Titelaufnahme

A. Thiele, P. Henning, M. Kubischik, K.-P. Hoffmann: Neural Mechanisms of Saccadic Suppression, In: „Science“ vom 29.03.2002

Weitere Informationen

Professor Dr. Klaus-Peter Hoffmann, Allgemeine Zoologie und Neurobiologie, Fakultät für Biologie der RUB, ND 7/31, Tel. 0234/32-24363, Fax: 0234/32-14185, E-Mail:  kph@neurobiologie.ruhr-uni-bochum.de

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Dr. Josef König

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