Wird ein Computer unser Gehirn simulieren können?

Im Rahmen des „Human Brain Project“ (HBP) will ein Konsortium europäischer Universitäten, darunter die Medizinische Universität Innsbruck, das menschliche Gehirn simulieren. Nicht nur die Neurowissenschaften, Medizin und Sozialwissenschaften, sondern auch die Informationstechnologie und Robotik sollen revolutioniert werden. Der Leiter der Innsbrucker Abteilung für Experimentelle Psychiatrie, Univ.-Prof. Dr. Alois Saria, ist der einzige Österreicher im Managementteam des Großprojektes.

Das „Human Brain Project“ (HBP) ist in jeder Hinsicht ein wissenschaftliches Projekt der Superlative: Die wichtigsten Partner sind 13 Forschungseinrichtungen aus Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Spanien, der Schweiz, Schweden, Israel, Österreich und Belgien. Insgesamt vereint das Vorhaben über 100 weitere Organisationen aus den unterschiedlichsten Fachrichtungen: Neurowissenschaften, Genetik, angewandte Mathematik, Computerwissenschaft, Robotik und Sozialwissenschaften. „Wir verfolgen einen völlig neuen Ansatz, um die Funktionsweise des Gehirns zu verstehen“, erklärt Univ.-Prof. Dr. Alois Saria von der Medizinischen Universität Innsbruck. Auf einer Pressekonferenz in Innsbruck informierte er Anfang Juli 2012 gemeinsam mit dem renommierten Hirnforscher, Univ.-Prof. Dr. Peter Jonas, vom Institute of Science and Technology Austria (IST) über den aktuellen Stand des HBP, das zu den insgesamt sechs finalen Projekten des FET-Flagship Programmes der EU gehört.

Zukunftsweisende Methoden entwickelt
Prof. Peter Jonas wird ebenso wie Univ.-Prof. DI Dr. Wolfgang Maas von der TU Graz am HBP mitarbeiten, sollte die EU Ende 2012 bzw. Anfang 2013 dem HBP den Zuschlag geben. Mit rund 1 Milliarde Euro könnte dann rund zehn Jahre lang geforscht werden. Damit soll eine weltweit einzigartige Forschungsinfrastruktur mit Neurowissenschaftslabors und Supercomputeranlagen sowie neue Plattformen für Sozialwissenschaften und Bildung aufgebaut werden. „Wir haben allerdings im Rahmen der jahrelangen Vorbereitung bereits jetzt viele zukunftsweisenden Methoden entwickelt, die uns in unserer alltäglichen Forschungsarbeit entscheidende Fortschritte bringen werden“, erklärt Prof. Saria. So existiert bereits ein datenbasiertes elektronisches Modell einer funktionellen Einheit der Großhirnrinde an der EPFL (Eidgenössische Technische Hochschule) in Lausanne, ein Prototyp eines Computerchips mit der Architektur von Nervenzellen an der Universität Heidelberg oder eine einzigartige Datenbankstruktur zur Aufbereitung einer großer Menge von Forschungsdaten am INCF (International Neuroinformatics Coordinating Facility) am Karolinska Institut in Stockholm.
Bereits jeder Dritte hat neurologische Erkrankung
Das Gehirn zu simulieren ist eine gigantische Herausforderung: Unser wichtigstes Organ ist mit seinen Milliarden vernetzten Nervenzellen (Neuronen) extrem komplex. Bisher können Hirnforscher daher nicht jene Experimente und Messungen durchführen, die sie bräuchten, um die Funktionsweise des Gehirns vollständig zu verstehen.

Ziel des HBP ist es, eine Simulation zu entwickeln, mit der alle Aspekte des Gehirns, von kleinen Neuronengruppen bis zur Gesamtaktivität der Hirnrinde gemessen und beeinflusst werden können. „Das würde einen enormen Innovationsschub für die Hirnforschung bedeuten und die Erforschung von Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten vieler neurologischer Erkrankungen erleichtern“, erklärt Univ.-Prof. Dr. Peter Jonas vom IST Austria. Derzeit können viele Krankheiten des Gehirns, wie Alzheimer oder Parkinson, nicht ursächlich behandelt werden. Allerdings hat bereits jeder dritte Europäer eine Erkrankung des Gehirns. Dadurch entstehen jährlich Kosten von 800 Milliarden Euro. Auch vor diesem Hintergrund zählt die Hirnforschung zu einem der wichtigsten Forschungsbereiche des 21. Jahrhunderts.

IT-Revolution: Neuer Supercomputer nach dem Vorbild des Gehirns
Jedes Jahr veröffentlichen NeurowissenschaftlerInnen weltweit rund 60.000 wissenschaftliche Dokumente, die jeweils die Rolle eines bestimmten Gens, Moleküls oder Aspekts des elektrischen Verhaltens von Neuronen, ihre Vernetzung oder aber die Mechanismen einer neurologischen Erkrankung beschreiben. Das HBP soll diese Daten sammeln und somit eine solide Grundlage für die Simulation schaffen. Damit sollen kurzfristig präzisere Diagnosen erstellt sowie eine maßgeschneiderte Behandlung für PatientInnen mit Gehirnerkrankungen entwickelt werden. Dafür wird allerdings eine enorme Rechenkapazität benötigt. Im Rahmen des HBP wird daher eine neue Generation von Supercomputern geschaffen werden. Dabei nehmen sich die WissenschafterInnen das Gehirn zum Vorbild, denn es ist 300.000 Mal leistungsfähiger als heutige Hochleitungscomputer und verbraucht dabei gerade einmal so viel Strom wie eine Glühbirne (ca. 30 Watt).
„Es wäre bereits ein gigantischer Fortschritt, wenn nur wenige der Fähigkeiten des Gehirns in einem Computer realisiert werden können“, erklärt Univ.-Prof. Dr. Saria. „Mit der bisherigen Computertechnologie bräuchten wir einen Supercomputer, der so viel Strom verbraucht wie ein mittleres Kraftwerk produzieren kann, um das Gehirn zu simulieren.“ Deshalb soll eine neue Technik angewandt werden, um einen sogenannten „neuromorphen“ Computer zu entwickeln. Dabei wird die Architektur der Nervenzellen auf einen Computerchip gebracht.

Innovation in der Ausbildung
Im HBP-Managementteam ist Prof. Alois Saria für den Bereich „Bildung“ zuständig. Er wird für die Ausbildung von rund 500 bis 1.000 PhD-Studierenden verantwortlich sein. „Dafür müssen zunächst eigene Curricula geschaffen werden“, erklärt Univ.-Prof. Dr. Alois Saria. Die Ausbildung wird dann mittels E-Learning erfolgen. „Das Human Brain Project wird damit auch weiterreichende Auswirkungen auf die Ausbildung haben, da wir eine neue Fernstudiumplattform für junge WissenschafterInnen aufbauen.“
FET-Flagship Initiative
Die Europäische Union bündelt ihre Programme der Forschung, technologischen Entwicklung und Demonstration traditionell in zeitlich befristeten Forschungsrahmenprogrammen. Die Future and Emerging Technologies (FET) – Flagship Initiative ist eine Förderlinie aus dem Förderbereich Informations- und Kommunikationstechnologien im 2014 auslaufenden 7. Rahmenprogramm der EU. FET Flagships sind groß angelegte, wissenschaftsgetriebene und aufgabenorientierte Initiativen, mit denen visionäre technologische Ziele erreicht werden sollen. In einer Vorbereitungsphase wurden zunächst sechs Pilotprojekte, darunter das HBP, mit je 1,5 Millionen Euro über zwölf Monate unterstützt. In der zweiten Jahreshälfte 2012 werden aus den Pilotprojekten dann zwei Flagship-Projekte ausgewählt, die Anfang 2013 ihre Arbeit aufnehmen sollen. Die beiden ausgewählten Projekte werden über zehn Jahre lang mit einem Budget von bis zu 100 Millionen Euro pro Jahr gefördert.

Weitere Zahlen und Fakten

Die Komplexität des Gehirns:
– 89 Milliarden Neuronen (Nervenzellen)
– 70.000 Neuronen passen auf einen Stecknadelkopf
– Ein Neuron hat über eine Milliarde Proteine
Neurologische Erkrankungen:
– Jeder dritte Mensch in der EU ist betroffen.
– Kosten: 800 Milliarden Euro
– Jedes Jahr veröffentlichen NeurowissenschafterInnen weltweit 60.000 wissenschaftliche Arbeiten.
HUMAN BRAIN PROJECT
– 13 Forschungseinrichtungen aus Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Spanien, Schweiz, Schweden, Israel, Österreich und Belgien
– Über 100 Organisationen
– 150 Principal Investigators (führende ForscherInnen)
Beteiligung aus Österreich:
Management Team: Medizinische Universität Innsbruck, verantwortlich für den Bereich „Bildung“

Partner: Institute of Science and Technology Austria (IST)

Mitarbeitende Wissenschaftler:
Univ.-Prof. Dr. Peter Jonas (Institute of Science and Technology Austria, Klosterneuburg)

Univ.-Prof. Dr. Alois Saria (Leiter Abteilung für Experimentelle Psychologie, Medizinische Universität Innsbruck)

Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Wolfgang Maas (Leiter des Instituts für Grundlagen der Informationsverarbeitung, TU Graz)

Zu den Teilnehmern der Pressekonferenz:
Der Leiter der Abteilung für Experimentelle Psychiatrie der Medizinischen Universität Innsbruck, Univ.-Prof. Dr. Alois Saria, kam 1987 nach Innsbruck und übernahm die Leitung der damaligen Abteilung für Neurochemie. 1997 wurde er zum Professor für Neurochemie berufen. Prof. Saria engagierte sich in vielen internationalen Vereinigungen. Unter anderem wurde er 2011 das erste nicht US-amerikanisches Mitglied im Finanzkomitee der „Society for Neuroscience“, der größten weltweit tätigen Non-Profit Organisation der Neurowissenschaften mit über 42.000 Mitgliedern. Der Innsbrucker Wissenschafter hat bereits mehrere Forschungspreise gewonnen und wird vom „Institute for Scientific Information“ (ISI) seit 2002 als „Highly Cited Researcher“ (über 12.000 Zitationen) im Bereich Pharmakologie geführt.

Der renommierte Hirnforscher Univ.-Prof. Dr. Peter Jonas vom Institute of Science und Technology Austria in Klosterneuburg untersucht die Funktionsweise neuronaler Mikroschaltkreise. Dies stellt eine der größten Herausforderungen der Biowissenschaften im 21. Jahrhundert dar. Denn das menschliche Gehirn besteht aus ca. 10 Milliarden Neuronen, die an gigantisch vielen Kontaktstellen (~10^15) miteinander in Verbindung stehen. Diese Kontakt- und Kommunikationsstellen zwischen Neuronen werden Synapsen genannt. Der 51-jährige ist Gründungsprofessor eines Forschungsclusters „Neurowissenschaften“ am IST Austria. Prof. Jonas erhielt zahlreiche hochdotierte Forschungspreise (unter anderem den Leibniz-Preis, Fick-Preis und Tsungming-Tu-Preis) und einen ERC Advanced Grant.

Seit 15. Juli 2011 verstärkt Mag. Dr. Wolfram Rieneck das Team des Servicecenters Forschung (SCF) der Medizinischen Universität Innsbruck. Herr Dr. Rieneck ist Mikrobiologe und war über zwölf Jahre am Büro für Europäische Programme als regionale und nationale Kontaktstelle für die Rahmenprogramme der Europäischen Union in Tirol und Vorarlberg verantwortlich. Mit Hilfe seiner langjährigen Expertise bei der Betreuung europäischer F&E-Vorhaben bietet das SCF den ForscherInnen der Medizinischen Universität nun eine intensive Betreuung von kooperativen, internationalen Forschungsprojekten in allen Projektphasen, von der Projektidee über die Einreichung bis zur intensiven Betreuung laufender Projekte und dem Projektmanagement an.

Pressebilder mit Bildunterschriften
Zum Herunterladen: http://www.i-med.ac.at/pr/presse/2012/60.html
Zur freien Verwendung – Bitte beachten Sie das Copyright!
Weiterführende Links:
• Homepage Projektseite: www.humanbrainproject.eu
• Projektbericht: http://www.humanbrainproject.eu/files/HBP_flagship.pdf
Medienkontakt:
Medizinische Universität Innsbruck
Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit
Dr.in Barbara Hoffmann
Innrain 52, 6020 Innsbruck, Austria
Telefon: +43 512 9003 71830, Mobil: +43 676 8716 72830
public-relations@i-med.ac.at, www.i-med.ac.at
Details zur Medizinischen Universität Innsbruck
Die Medizinische Universität Innsbruck mit ihren rund 1.800 MitarbeiterInnen und ca. 3.000 Studierenden ist gemeinsam mit der Universität Innsbruck die größte Bildungs- und Forschungseinrichtung in Westösterreich und versteht sich als Landesuniversität für Tirol, Vorarlberg, Südtirol und Liechtenstein. An der Medizinischen Universität Innsbruck werden folgende Studienrichtungen angeboten: Humanmedizin und Zahnmedizin als Grundlage einer akademischen medizinischen Ausbildung und das PhD-Studium (Doktorat) als postgraduale Vertiefung des wissenschaftlichen Arbeitens. Neu im Studienplan seit Herbst 2011 ist das Bachelor-Studium der Molekularen Medizin. An das Studium der Human- oder Zahnmedizin kann außerdem der berufsbegleitendete Clinical PhD angeschlossen werden.

Die Medizinische Universität Innsbruck ist in zahlreiche internationale Bildungs- und Forschungsprogramme sowie Netzwerke eingebunden. Die Schwerpunkte der Forschung liegen in den Bereichen Onkologie, Neurowissenschaften, Genetik, Epigenetik und Genomik sowie Infektiologie, Immunologie & Organ- und Gewebeersatz. Darüber hinaus ist die wissenschaftliche Forschung an der Medizinischen Universität Innsbruck im hochkompetitiven Bereich der Forschungsförderung sowohl national auch international sehr erfolgreich.

Media Contact

Dr.in Barbara Hoffmann Medizinische Universität Innsbru

Weitere Informationen:

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