Entwicklung eines digitalen Zwillings der Bauchdecke

Der Zugversuch wird genauestens dokumentiert, unter anderem durch zwei Smartphonekameras.
Bild: Patrick Pollmeier/FH Bielefeld

An einem digitalen Modell soll künftig das häufige Nahtversagen nach Bauchoperationen besser erforscht werden – dem Trend folgend ohne Tierversuche. Masterstudierende am Campus Minden der FH Bielefeld wollen zusammen mit einem Viszeralchirurgen anhand der Finite-Elemente-Methode ein Simulationsmodell erarbeiten.

Nach jeder fünften Operation im Bauchraum gibt es Komplikationen mit der Naht: Wenngleich es an der Hautoberfläche oft gar nicht so schlecht aussieht, kann es im darunterliegenden Gewebe zur Entwicklung von Narbenbrüchen kommen – manchmal direkt nach dem Eingriff, teils aber auch erst viel später.

„In den meisten Fällen muss dann erneut operiert werden“, erklärt der Viszeralchirurg Privatdozent Dr. med. Jörg Johannes Höer, Chefarzt der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie im hessischen Bad Homburg. „Schon lange wird an den Ursachen und Lösungen geforscht“, so der Mediziner. Wirklich vielversprechende Lösungsansätze gebe es in der medizinischen Forschung für diese oft sehr gefährlichen Komplikationen bislang nicht.

Interdisziplinäres Projekt zur Bekämpfung von Komplikationen durch Nahtversagen

Prof. Dr. Oliver Wetter leitet den Masterstudiengang Integrierte Technologie- und Systementwicklung (ITSE) am Campus Minden.
Foto: Patrick Pollmeier/FH Bielefeld

An dieser Stelle kommen Dr.-Ing. Oliver Wetter, Professor für Elektrotechnik am Campus Minden der Fachhochschule (FH) Bielefeld und seine Studierenden ins Spiel. Moment… Elektrotechnik und Bauchchirurgie? Ja, ganz richtig gelesen: In einem Studierendenprojekt will Oliver Wetter zusammen mit dem Chirurgen Weichgewebe biomechanisch modellieren. Das gemeinsame Ziel des interdisziplinären Vorhabens: Es soll ein so genannter digitaler Zwilling des Gewebes entstehen, also ein Modell, das in Zukunft zur weiteren Erforschung des Nahtversagens dienen könnte. „Damit könnte auch auf viele Tierversuche verzichtet werden“, hofft Höer.

Der digitale Zwilling soll mithilfe der Methode der finiten Elemente entstehen, die normalerweise im Maschinenbau eingesetzt wird: Dabei werden verschieden große Gewebeproben, die miteinander agieren und sich gegenseitig beeinflussen, mathematisch zu einem Gesamtmodell verknüpft. Was sehr abstrakt klingt, benötigt zunächst Daten aus ganz praktischen Messungen einer aufwendigen Versuchsreihe. Als Weichgewebe dient ein Schweinebauch, wie er zum Beispiel auch in der Anatomie-Ausbildung im Medizinstudium genutzt wird. „Das Gewebe ist dem menschlichen sehr ähnlich“, erklärt Dr. Jörg Höer.

Wie es zu der Idee kam: Zusammenarbeit seit 2006

Prof. Dr. Oliver Wetter leitet den Masterstudiengang „Integrierte Technologie- und Systementwicklung“, kurz ITSE, in dem Studierende aus unterschiedlichen ingenieurwissenschaftlichen Disziplinen angewandte Forschung live kennenlernen. Die Idee, mit den Masterstudierenden eine Fragestellung aus der Medizin anzugehen, statt mit den üblichen Werkstoffen Metall oder Kunststoff zu arbeiten, trug Oliver Wetter schon länger mit sich herum. Als er 2006 an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) promovierte, lernte er über das in Aachen ansässige Fraunhofer Institut für Produktionstechnik den Viszeralchirurgen Höer kennen, der dort schon damals der Frage des Nahtversagens nachging. Höer: „Zu der Zeit öffnete sich die Medizin gerade erst für die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen. Ich fand es unglaublich bereichernd, neue Sichtweisen und somit völlig andere Herangehensweisen und Methoden kennenzulernen.“ So entstand die Zusammenarbeit mit Oliver Wetter, deren Ergebnisse bereits in gemeinsame wissenschaftliche Publikationen geflossen sind. Der Kontakt riss auch nicht ab, als Wetter 2010 die Professur am Campus Minden antrat und Höer von Aachen nach Bad Homburg ging. Nun möchten beide auf ihre früheren Arbeiten aufbauen.

Zugprüfmaschine im Einsatz: Akribische Versuchsplanung für exakte Daten

Im Master ITSE griff Wetter das Thema Nahtversagen also wieder auf und plante den Zugprüfversuch mit einem fünfköpfigen studentischen Team. Im Vorfeld mussten die Studierenden genau planen und vorbereiten: Wie kann man das Gewebe überhaupt in das Prüfgerät einspannen? Welche Daten sollen wie erhoben werden und wie werden diese ausgewertet? „Ein Student aus einem höheren Semester hat sogar schon ein ganzes Jahr vorrecherchiert“, ergänzt Wetter. So liegt auch eine umfangreiche Literaturrecherche zum Thema vor.

Nach wochenlangen theoretischen Vorbereitungen ist endlich der Versuchstag
gekommen: Auf dem großen Tisch in der Maschinenhalle des Campus Minden liegt das Fleisch auf einer weißen Abdeckfolie. Dr. Jörg Höer, der zu dem Experiment extra nach Minden gereist ist, präpariert das Gewebe mit dem Skalpell in zuvor festgelegte Teile. Mal mit, mal ohne Faszien, mal ein Längsmuskel, mal ein Quermuskel.

Doch was genau haben die angehenden Ingenieure und der Mediziner vor? „Wir wollen untersuchen, wie zugfest das Gewebe ist. Denn meist kommt es zu Problemen bei den Nähten, wenn Patienten beispielsweise nach der OP husten, sich zu schnell bewegen oder etwas heben. Dann wird eine Zugbewegung auf das Gewebe ausgeübt. Um das zu simulieren, spannen wir verschiedene Gewebeproben in die Zugprüfmaschine ein“, erklärt Oliver Wetter. Die Zugprüfmaschine wird im Regelfall für Kunststoffe oder Metalle eingesetzt – für Weichgewebe ist dies am Campus Minden eine Premiere. Herausfinden wollen sie nicht nur, wie die Fleischprobe sich dehnt und wann sie „reißt“, sondern auch, welche Kraft dabei auf die Fläche einwirkt, „also die mechanische Spannung“, ergänzt Wetter. Die Daten fließen später in die Simulation ein.

Die Zugprüfmaschine besteht aus einem Kraftsensor und zwei Schienen, an denen das eingespannte Objekt nach oben gezogen wird. So wird Zug auf das Objekt ausgeübt und die Zugfestigkeit des Objektes gemessen. Um die Fläche zu bestimmen, nutzen die Studiereden zwei in Stativen befestige Smartphones, die die Messungen filmen: Das erste Video misst die Länge des Fleischstückes, das zweite die Breite. „So kann aus beiden Videos anhand der Länge mal Breite die Fläche des Fleischstückes ermittelt werden“, so Wetter. Leuchtdioden neben der Gewebeprobe dienen dazu, beide Videos später exakt miteinander abgleichen zu können: Wenn die Sequenz, in der die Dioden leuchten, auf beiden Videos identisch ist, filmen beide denselben Prozess. Auch dieses Detail der Versuchsanordnung haben die Studierenden vorbereitet und programmiert.

Als Versuchsleiter wurde Dominik Roßmann auserkoren, der vor dem ITSE-Master Maschinenbau in Minden studiert hat: „Ich passe heute auf, dass alle das machen, wofür sie zuständig sind.“ Denn damit das Team am Ende auch die benötigten Daten sammeln kann, ist eine aufwendige Dokumentation vonnöten. „Die gesammelten Daten zu synchronisieren, ist der Kompetenzbereich unserer Elektrotechniker“, sagt Roßmann. Da kommt dem Team zugute, dass es sich aus drei Maschinenbauern und zwei Elektrotechnikern zusammensetzt, denn „die unterschiedlichen Vorkenntnisse ergänzen sich bestens“, so Roßmann.

Zu den Vorbereitungen zählte im Übrigen auch, einen ganzen Schweinebauch zu organisieren. Oliver Wetter: „Das war gar nicht so einfach, denn zum einen gibt es kaum noch Metzger, die selbst schlachten. Wir sind in Diepenau fündig geworden. Doch der ganze Schweinebauch durfte nur mit Genehmigung des Veterinäramtes entnommen werden.“ Das Fleisch wurde somit offiziell für wissenschaftliche Zwecke freigegeben, aber nicht zum Verzehr.

Versuchstag endet mit guter Ausbeute

Als das erste Fleischstück in die mit hunderten kleinen Nadeln bestückten Klemmbacken eingelegt und in die Zugprüfmaschine eingesetzt wird, ist die Spannung im Raum greifbar Alle Beteiligten sind überrascht, wie lange das Gewebe bis zum Reißen standhalten konnte. Einige Studierende hatten im Vorfeld sogar Wetten auf das Messergebnis abgeschlossen.

Doch schon nach den ersten drei Messungen stellen die Studierenden fest: Das Gewebe reißt meist an der Perforierung durch die „Nadelkrallen“ in den Klemmbacken. Ist das gewählte Greifmaterial doch nicht so gut geeignet? Ein Vergleich mit Zugmessproben aus dem Maschinenbau zeigt dann, dass die biomechanische Messprobe besser tailliert werden muss. Kein Problem für den Chirurgen Höer. Auch Wetter ist zufrieden: „Nach der Anpassung der Proben sind gute und nachvollziehbare Messungen aus den verschiedenen Gewebeteilen entstanden. Der Versuchstag endete somit mit guter Ausbeute!“

Wie geht es nun weiter? „Wir sind noch in Phase eins“, erklärt Oliver Wetter. „Wenn wir alle Daten sauber dokumentiert und synchronisiert haben, können wir ans Modellieren gehen, das ist Phase zwei.“ Die läuft dann ohne Fleisch und reale Versuche, eben ganz digital.

Weitere Informationen:

https://www.fh-bielefeld.de/presse/pressemitteilungen/ingenieure-der-fh-bielefel… Pressemitteilung auf www.fh-bielefeld.de

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Dr. Lars Kruse Ressort Hochschulkommunikation
Fachhochschule Bielefeld

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