Neue Reibungsart in Ligand-Protein-Systemen entdeckt

Zugexperimente an einem Biotin-Streptavidin-Komplex. Biotin (blaue Linien) wird aus einem Streptavidin-Protein (gelb) mittels eines Polymer-Linkers (graue Linie) herausgezogen, der an eine Blattfederspitze eines Rasterkraftmikroskops (graues Dreieck) gebunden ist.
Bildquelle: Steffen Wolf

  • Team der Universität Freiburg und des Max-Planck-Instituts für Biophysik in Frankfurt a.M. findet Anisotrope Reibung
  • Die Forschenden verwendeten für ihre Experimente eine neuartige Methode der Einzelmolekülkraftspektroskopie sowie High Performance Computing
  • Ergebnisse sind wichtiges Puzzleteil für das Verständnis von Reibung in technischen Anwendungen und biologischen Komplexen

Ein interdisziplinäres Forschungsteam der Institute für Physikalische Chemie und Physik der Universität Freiburg und des Max-Planck-Instituts für Biophysik in Frankfurt a. M. hat eine neue, richtungsabhängige Reibungsart in Proteinen entdeckt, die so genannte Anisotrope Reibung. „Bisher hatte noch niemand beobachtet, dass Reibung in Biomolekülen eine Richtungsabhängigkeit hat“, sagt Physiker Dr. Steffen Wolf von der Universität Freiburg. Die Ergebnisse sind in der Fachzeitschrift Nano Letters als Coverartikel erschienen.

Experimente an Modell-Protein-Liganden-Komplex

Proteine bilden einen Großteil der mikroskopischen Maschinerie von Zellen und verrichten während ihrer Funktionszyklen Arbeit. Entsprechend folgen sie den Gesetzen der Thermodynamik, weisen eine Energieumwandlungseffizienz auf und verlieren während ihrer Zyklen Energie – was aus makroskopischer Sicht einer scheinbaren Reibung entspricht. Auf der mikroskopischen Skala sind bekannte Reibungsquellen die innere Reibung von Proteinen, die durch die Anregung innerer Schwingungen entsteht, und die Lösungsmittelreibung durch die Beschleunigung von sie umgebenden Lösungsmittelmolekülen. Diese führen zur Erwärmung des Proteins beziehungsweise des Lösungsmittels. In Einzelmolekülexperimenten und Simulationen an einem Modell-Protein-Liganden-Komplex fanden die Wissenschaftler*innen nun die neue Reibungsart.

Für ihre Einzelmolekül-Experimente verwendeten sie eine neuartige Methode – stereographische Einzelmolekülkraftspektroskopie, die auf Rasterkraftmikroskopie basiert. Diese Technik erlaubt es, Liganden aus einem an eine Oberfläche gebundenen Protein nicht nur entlang einer einzigen, sondern entlang aller drei kartesischen Koordinaten herauszulösen. Dabei fanden Dr. Wanhao Cai, Prof. Dr. Thorsten Hugel und Dr. Bizan N. Balzer vom Institut für Physikalische Chemie der Universität Freiburg sowie Dr. Jakob T. Bullerjahn vom Max-Planck-Institut, dass die Reibung bei der Liganden-Dissoziation überraschenderweise mit dem angelegten Winkel zunimmt.

Experiment und Computersimulation

Anschließend bildeten Miriam Jäger und Dr. Steffen Wolf vom Physikalischen Institut der Universität Freiburg das Experiment in Computersimulationen nach. Hierzu verwendeten sie High Performance Computing (HPC), also Hochleistungsrechnen, auf dem BinAC-HPC-Cluster in Tübingen. Dabei stellten sie fest, dass die Arbeit beim Dissoziieren eines Liganden von seiner Bindungsstelle von der genauen Richtung abhängt, in die die Zugkraft ausgeübt wird.

Die Forschenden fügten die Ergebnisse aus Experiment und Simulationen zusammen und erkannten, dass die Ursache für die winkelabhängige Reibung in der undefinierbaren und zufälligen Orientierung der an die Oberfläche gebundenen Proteine entlang ihrer Rotationsachse im Experiment liegt. Das Team wiederholte die Einzelmolekül-Zugexperimente, um statistisch aussagekräftige Ergebnisse zu erzielen. Dabei bindet der Ligand bei jeder Messung an ein anderes Protein. Somit wurde bei jeder Messung ein Ligand unter demselben Winkel zur Oberfläche herausgezogen, aber über verschiedene Bereiche des zufällig orientierten Proteins. Da diese Orientierung – im Versuchsaufbau wie in der realen Welt – nicht definiert werden kann und jede Messung somit nicht exakt reversibel wiederholbar ist, werden jedes Mal unterschiedliche Energiemengen in das Biomolekül eingetragen. Der nicht reversible Teil dieser Energiemenge geht als Wärme an das System verloren. Der entsprechende Effekt wirkt wie eine Reibungsquelle, die die Forschenden als Anisotrope Reibung bezeichnen.

Fundamentale Art der Reibung

„Wir gehen davon aus, dass diese bisher unbekannte und fundamentale Art der Reibung in jeder Bioassemblierung auftritt, bei der eine Zufälligkeit in der Proteinausrichtung zusammen mit der Richtungsabhängigkeit der angewendeten Kraft vorliegt“, sagt Biophysiker Dr. Bizan N. Balzer. Das sei zum Beispiel in biomolekularen Motoren oder in kraftsensitiven Membranproteinen der Fall, aber auch bei Prozessen wie dem Blutfluss, wo Kräfte auf zufällig orientierte Proteine ausgeübt werden. „Anisotrope Reibung ist damit ein weiteres wichtiges Puzzleteil für das Verständnis von Reibung sowohl in technischen Anwendungen als auch in biologischen Komplexen im Allgemeinen.“

Faktenübersicht:
• Originalpublikation: Cai, W., Jäger, M., Bullerjahn, J. T., Hugel, T., Wolf, S., Balzer, B. N.: Anisotropic Friction in a Ligand-Protein Complex. In: Nano Letters 2023. DOI: http://doi.org/10.1021/acs.nanolett.2c04632.
• Thorsten Hugel ist Professor, Bizan N. Balzer Akademischer Oberrat und Wanhao Cai Postdoc am Institut für Physikalische Chemie der Universität Freiburg. Hugel und Balzer sind Mitglieder des Excellenzcluster Exzellenzclusters „Living, Adaptive and Energy-autonomous Materials Systems (livMatS)“ der Universität Freiburg, Balzer ist Mitglied des Freiburger Materialforschungszentrum (FMF). Steffen Wolf ist Privatdozent, Miriam Jäger Doktorandin am Institut für Physik der Universität Freiburg. Sie sind Mitglieder der Forschungsgruppe FOR5099 der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) „Reduktion der Komplexität von Nichtgleichgewichtssystemen“. Jakob T. Bullerjahn ist Mitarbeiter des Max-Planck-Instituts für Biophysik in Frankfurt a. M.
• Die Forschungsarbeit wurde gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) durch das Projekt HU 997/13-1, die Excellenzinitiative − EXC-2193/1 − 390951807 und das Projekt WO 2410/2-1 innerhalb der Forschungsgruppe FOR5099 „Reduktion der Komplexität von Nichtgleichgewichtssystemen“ (Projektnr. 431 945 604) und das Projekt INST 37/935-1 FUGG, sowie von der Max-Planck-Gesellschaft. Außerdem wurde die Arbeit unterstützt von der bwUniCluster-Computing-Initiative, die High Performance/Cloud Computing-Gruppe am Zentrum für Datenverarbeitung der Universtät Tübingen und dem Land Baden-Württemberg durch bwHPC.

Bildunterschrift:
Zugexperimente an einem Biotin-Streptavidin-Komplex. Biotin (blaue Linien) wird aus einem Streptavidin-Protein (gelb) mittels eines Polymer-Linkers (graue Linie) herausgezogen, der an eine Blattfederspitze eines Rasterkraftmikroskops (graues Dreieck) gebunden ist.
Bildquelle: Steffen Wolf

Kontakt:
Hochschul- und Wissenschaftskommunikation
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Tel.: 0761/203-4302
E-Mail: kommunikation@zv.uni-freiburg.de

Weitere Informationen:

https://kommunikation.uni-freiburg.de/pm/2023/neue-reibungsart-in-ligand-protein…

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