Varianten fehlender Gesichtserkennung entdeckt
Das Merken und Wiedererkennen von Gesichtern ist in der Alltagskommunikation wichtig, gelingt jedoch vielen aufgrund eines Gendefekts oder Unfalls nicht.
Allein in Deutschland sind zwei Mio. Menschen von diesem Problem betroffen. Meist kommen sie gut damit zurecht und identifizieren ihr Gegenüber mit anderen Anhaltspunkten wie etwa Gang, Frisur oder Stimme. Dass es vielleicht ganz unterschiedliche Formen dieses im Fachterminus als „Prosopagnosie“ bezeichneten Phänomens gibt, behaupten Forscher vom Birkbeck College der Universität London in der Zeitschrift „Brain“.
Erkennen und Vergessen in 600 Millisekunden
Die Forscher zeigten zwölf Versuchspersonen mit Prosopagnosie Gesichter von Berühmtheiten und Unbekannten. Gleichzeitig beobachteten sie im Elektroenzephalogramm (EEG) den Zeitpunkt, in dem das Gehirn auf diese Stimuli elektrisch reagierte. Obwohl alle Untersuchten wie erwartet angaben, selbst die berühmten Gesichter nicht zu erkennen, zeigte sich bei einigen von ihnen im EEG nach 250 Millisekunden eine Reaktion, die normalerweise bei erfolgreicher Gesichtserkennung auftritt. Nach 600 Millisekunden war diese Erkennungsreaktion bei elf der zwölf Probanden wieder verschwunden.
Die Deutung der Wissenschaftler: Einige der Prosopagnosie-Testpersonen haben die Gesichter in einer frühen Phase erkannt, doch ging die Information später wieder verloren. Manche Teile des Gehirns könnten demnach wissen, dass sie ein bekanntes Gesicht sehen – sie erkennen es unbewusst. „Der Temporärlappen des Gehirns enthält eine ganze Reihe von Regionen, die Gesichter verarbeiten. Vorstellbar ist, dass es hier sehr verschiedene Arten von Störungen gibt – und somit wahrscheinlich sogar Dutzende unterschiedliche Formen der Gesichtsblindheit“, sagt Studienleiter Bradley Duchaine.
Vererbung über ein Gen
Der Münsteraner Prosopagnosie-Forscher Thomas Grüter http://thomasgrueter.de bezeichnet den Ansatz gegenüber pressetext als „interessant“, relativiert aber: „Ein Nachweis, der auch das Verhalten oder die Symptome miteinschließt, ist damit noch nicht gelungen.“ Für die Lebensführung der Betroffenen dürfte der vermutete Unterschied zwischen unbewusster und bewusster Gesichtserkennung zudem kaum relevant sein. „Zumindest die relativ häufige erbliche Form der angeborenen Prosopagnosie ist klinisch relativ einheitlich und weist einen autosomal dominanten Erbgang auf. Das würde eher für einen Defekt an einem einzelnen Gen statt für eine große Vielfalt unterschiedlicher Formen sprechen“, so der Experte.
Ein deutscher Neurologe dokumentierte 1947 erstmals die Prosopagnosie bei Patienten mit schweren Kopfverletzungen. Erst später zeigte sich, dass die Schwäche bei vielen von Geburt an besteht und zu 50 Prozent an die Kinder vererbt wird. Erst langsam wird die Wahrnehmungsschwäche bekannt, wozu das gestiegene Interesse der Medien in den vergangenen Jahren beigetragen hat.
Abstract der Studie unter http://brain.oxfordjournals.org/content/early/2012/01/17/brain.awr347.abstract
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