Gesprächsraum Internet in Marokko
Wenn der Blick auf die postkolonialen Länder gerichtet wird, dann werden Jugendliche meist recht pauschal mit „Problemen“, „Unruhestiftern“ oder „Arbeitslosigkeit“ gleich gesetzt. Erst allmählich rücken die Innenansichten und das Selbstverständnis von Jugendlichen, die in der „Dritten Welt“ bereits jetzt die größte soziale Gruppe darstellen, in den Fokus. Am Orientalischen Institut der Universität Leipzig wendet sich die junge Arabistin Ines Braune in ihrer Promotion marokkanischen Jugendlichen zu.
Bevor sie sich auf das Unterfangen Promotion einließ, reiste Ines Braune in das Land ihrer Neugierde – privat zum Urlaub. Den Nahen und Mittleren Osten hatte die Arabistin und Medienwissenschaftlerin im Zuge ihrer Magisterarbeit bereits erkundet – inzwischen liegt ihre Studie „Die Journalistenverbände in Jordanien und im Libanon – ein Teil der Zivilgesellschaft?“ in der Reihe „Hamburger Beiträge“ des Deutschen Orient-Institutes vor. Für ihre Promotion nun zog es sie nach Marokko, in den Maghreb, den nordafrikanischen Teil der arabischen Welt. Sie hatte die Stichworte „Jugend“ und „Medien“ im Gepäck, und als sie erstmals durch die Hafenstadt Fes streifte, lag ihr „Forschungsobjekt“ quasi am Wege: „Es gab unglaublich viele Internet-Cafés, öffentliche Räume, in denen Jugendliche sind.“ Für Ines Braune war klar, das will sie genauer wissen: Wie das Internet in einer Gesellschaft, in der 70 Prozent der Bevölkerung jünger als 30 Jahre und in der die Geschlechter voneinander getrennt sind, in der Jugendliche kaum Arbeit finden und ihnen zum Heiraten das Geld fehlt, in der die Hälfte der Menschen auf dem Land lebt und in der König Mohammed VI. eine Bildungsdekade bis 2008 proklamiert hat, kurzum: wie das Internet in einer arabischen Gesellschaft, die sich an der Schnittstelle zur Öffnung befindet, wirkt. Kann das World Wide Web Grenzen überwinden? Oder aufbrechen? Oder aufzeigen – das zumindest?
Die dritte Frage kann Ines Braune nach 240 Online-Interviews und 80 qualitativen Befragungen, die sie zwischen 2002 und 2004 in Fes geführt hat, mit „Ja“ beantworten. Ja, das Internet zeigt Grenzen auf, von denen sich Jugendliche in der marokkanischen Gesellschaft umgeben sehen. Es ist zum einen die Grenze zwischen den Generationen, zwischen den Kindern und Eltern, die das Internet erhellt. Es ist zum anderen die Grenze zwischen Männern und Frauen, die sich auch im Umgang der Heranwachsenden mit dem Internet erkennen lassen. Und schließlich verdeutlicht das elektronische Netz, dass es geographische Grenzen nach Europa und Nordamerika gibt. Zugleich liegt im Aufzeigen dieser Grenzen die Chance, einen individuellen Umgang mit ihnen zu finden.
Das Internet, das 1995 in Marokko eingeführt wurde und weitgehend frei von Zensur ist, hat sich für viele Jugendliche zu einem Treffpunkt, zu einem Kommunikationsort entwickelt. Allein in Fes gibt es 200 Internet-Cafés, deren Online-Offerte bei einem Stundensatz zwischen vier und acht Dirham (0,40 bis 0,80 Euro) durchaus erschwinglich ist. Dabei verdeutlichen die Interviews, die Ines Braune aufgenommen hat, dass das Internet den Jugendlichen ebenso technische wie tatsächliche Gesprächsräume eröffnet.
Geradezu klassisch werden Chatrooms genutzt, sowohl um ins Ausland zu gelangen – zumeist in der Hoffnung auf Bildungs- und/oder Berufschancen in Europa bzw. Nordamerika – als auch um ins Innere Marokkos zu kommen – zumeist mit der Absicht, religiöse und/oder soziale Schranken zu Gleichaltrigen zu umgehen. Diese Möglichkeit eröffnen Internet-Cafés zudem auch auf direktem Wege: Ein junger Mann, der seine Freundin unmöglich in seinem eigenen Wohnviertel treffen könnte, kann sich durchaus im virtuellen und realen Cyberspace mit ihr verabreden. Es ist genau diese „kommunikative Atmosphäre“, die die Jugendlichen in und an den Internet-Cafés schätzen. Zudem können sie sich hierhin auch vor der eigenen Familie zurückziehen: Den Eltern, zumeist Analphabeten, lässt sich glaubhaft versichern, dass das Internet Wissen und Kenntnisse für die Schule bereitstellt. Und wenn die Jüngeren schließlich per Mail und Chat Kontakt zu jenen Angehörigen halten, die in Europa arbeiten, zeigt sich den Älteren in der Familie wiederum der Nutzen des Internets. Die Frage hingegen, ob das World Wide Web Grenzen überwinden oder aufbrechen kann, vermag Ines Braune aus der heutigen Perspektive nicht zu beantworten. Sie sagt: „Es verdeutlicht Brüche. Und dass eine Generation heranwächst, die nicht da sein möchte, wo sie ist.“ Welche Konsequenzen eine solche Entwicklung mit sich bringen kann, darüber will sie keine Vermutungen anstellen. „Derzeit überwiegen die individuellen Bedürfnisse bei der Nutzung des Internets.“
Was aus diesen erwachsen kann, ist offen. So offen wie die Zukunft der Veränderungen, die der junge marokkanische König Mohammed VI. in Gang gesetzt hat. „Es bleibt abzuwarten, welche Spuren die Online-Erfahrungen in der Offline-Welt hinterlassen können.“
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