HYPERRAUM.TV-Doku: Wertvoller Gen-Schrott
Rund neunzig Prozent der DNA hielt man lange Zeit für überflüssiges Beiwerk aus der früheren evolutionären Entwicklung des Menschen. Inzwischen sind sie zu einem spannenden Forschungsgebiet geworden. Mit dem Chemiker Prof. Dr. Thomas Carell von der Universität München geht Susanne Päch dieser Frage in der HYPERRAUM.TV-Sendung „Wertvoller DNA-Schrott“ nach, und erklärt dabei auch dafür wichtige Grundlagen des Aufbaus der Zellen und ihrer Entwicklung.
In populären Darstellungen wird gern betont, dass die DNA nun gänzlich entschlüsselt worden sei. Doch diese Aussage ist, wenn man genauer hinschaut, reichlich übertrieben – auch wenn wir inzwischen viel Grundsätzliches wissen: Jede DNA im winzigen Zellkern liegt in einer sogenannten Doppelhelix vor. Nur vier verschiedene Basen sind darin auf einer langen Kette unterschiedlich gereiht. Sie bilden das Genom, die Summe aller Erbinformationen.
Jeder Mensch ist ein biologisches Unikat. Erstaunlich ist das schon, denn die Reihung der 3 x 109 Basenpaare in der Helix ist bei jedem Menschen fast identisch und weicht von Mensch zu Mensch nur um rund 0,1 Prozent ab. Klar ist auch: Die für die Produktion neuer Zellen benötigten Gene sind immer nur winzige Ausschnitte aus dieser langen DNA-Reihe, dem menschlichen Genom. Der jeweils benötigte Genabschnitt wird mit der sogenannten RNA aus der DNA im Zellkern herauskopiert und dann durch die poröse Kernhülle in das Zellinnere transportiert. Dorthin also, wo die biochemische Produktionsmaschine für die Herstellung neuer Zellen liegt.
Aber genau hier fangen die Fragen an: Wie viele Gene hat der Mensch überhaupt? Sind es 20.000, 25.000 oder sogar noch mehr? Offen auch: Welche Genabschnitte definieren welche Strukturen oder Eigenschaften des Menschen? Und wie sind diese Gene im Zellkern für unterschiedliche Zelltypen – beispielsweise Hautzellen oder Neuronen – verschaltet? Viele Fragen also, die von Forschern trotz der vermeintlichen Gen-Entschlüsselung immer noch intensiv untersucht werden.
Und dann gibt es in der Molekulargenetik noch ein Thema, das das Zeug zu einer Revolution in sich birgt: Denn jenen Teil der DNA, der seit dem Beginn der Genetik im Zentrum stand, nennen Wissenschaftler „codierend“ – was sofort und richtigerweise vermuten lässt, dass es auch nicht-codierende DNA-Abschnitte gibt. Sie sind ebenso fester Bestandteil jeder menschlichen DNA, doch Genetiker haben sich dafür im 20. Jahrhundert zuerst einmal wenig interessiert. So ist beispielsweise bis heute unbekannt, welche Funktion diesen zahlreichen nicht-codierenden Teilen in der Zelle überhaupt zukommt. Und das ist alles andere als eine irrelevante Frage. Denn nur zehn Prozent der DNA sind codierend, 90 Prozent dagegen nicht. Molekulargenetiker und Biochemiker hielten diesen DNA-Teil lange Zeit für überflüssige Relikte aus früheren evolutionären Phasen – vielleicht für Anthropologen von Interesse, nicht aber für Genetiker. Sie nannten diese Teile schlicht DNA-Schrott.
Der erste Schritt der Erkenntnis war die Feststellung, dass Teile der Junk-DNA auch als Junk-RNA vorliegen, also in jener Form, die normalerweise aus dem Kern transportiert und dort für die Produktion neuer Zellen genutzt wird. Doch diese als RNA kopierten Teile der nicht-codierenden Gene wandern nie in die Produktionsmaschine des Zytoplasmas, haben also zuerst einmal keinerlei Funktion bei der Produktion neuer Zellen. Inzwischen geben Forschungen jedoch Hinweise, dass sich diese nicht-codierenden Teile der DNA im Gegensatz zu den codierenden von Individuum zu Individuum anders als die DNA ganz erheblich unterscheiden können und ihnen auch im Lauf des Lebens wichtige Aufgaben zukommen könnten.
In den letzten zwanzig Jahren hat sich die Forschungswelt diesen nicht-codierenden Bestandteilen in der Zelle immer intensiver zugewandt. Wissenschaftler untersuchen, welche Funktionen dem DNA- und RNA-Müll zukommen könnten – und sie stellen mit Erstaunen fest, dass diese große Zahl nicht-codierendem, scheinbar überflüssigen Abfalls möglicherweise viel interessanter ist als bisher gedacht. Dafür spricht eigentlich schon recht grundsätzlich, dass die Natur in der Regel extrem effizient arbeitet und Materialien im Organismus recycelt – warum also sollte sie derart überflüssigen Ballast in so extrem großer Menge über ungezählte Generationen immer weiter im Organismus mitschleppen?
Forscher gehen heute bei den nicht-codierenden Teilen der DNA ganz unterschiedlichen Fragestellungen nach. Sind diese Genabschnitte so eine Art Ersatzteillager, das im Notfall in der Zelle aktiviert werden kann? Spielen sie womöglich bei der Entstehung von Krankheiten eine Rolle? Oder beeinflussen und verändern sie im Lauf des Lebens sogar die Erbstruktur des Menschen? Greifen also die nicht-codierenden DNA-Teile immer wieder direkt in die Verschaltung der Erbinformation im Zellkern ein? Damit wäre der nicht-codierende Teil dann doch ein Faktor der Evolution!
Wenn Fachleute über diese Fragen diskutieren, kommt der Begriff der Epigenetik ins Spiel – eine neue Forschungsrichtung, die sich als Teilbereich der Zellforschung damit befasst, wie Gene im Lauf des Lebens aktiv oder passiv gestellt werden, wie sie also durch Umwelteinflüsse ein- oder ausgeschaltet werden können.
Die Epigenetik ist für manch traditionell geprägten Forscher bis heute ein Reizwort – ganz im Sinn der historischen Auseinandersetzung zwischen der Evolution durch Vererbung von Charles Darwin und der Vorstellung der Vererbung erworbener Eigenschaften von Jean-Baptiste de Lamarck. Im 20. Jahrhundert wurde die Frage durch das Aufkommen der Genetik scheinbar klar zugunsten von Darwin beantwortet. Doch das 21. Jahrhundert eröffnet neue Horizonte, die dazu führen, dass alles vielleicht doch etwas komplizierter ist und dass Umwelteinflüsse die Aktivität von Genen maßgeblich beeinflussen können. Forschungen im Grenzbereich von Biologie und Chemie zeigen immer deutlicher, dass die Welt der unveränderbaren Gene in Organismen irgendwie aufweicht.
Einen wichtigen Trick, mit dem die Natur Gene gezielt aus dem Kopier-Spiel bringen kann, kennen wir schon: Biochemiker sprechen von der „Methylierung“. Denn die stumm geschalteten Genabschnitte zeigen alle eine Methylgruppe, die an einer ihrer Basen gebunden ist. Solch methylierte Basenpaare sind dann stärker gepackt und unterdrücken so das Kopieren der Gene in diesem Bereich. Die Methylierung ist damit ein wichtiger Faktor der Epigenetik, deren Entschlüsselung noch ganz am Anfang steht.
Die Erforschung der Methylierung hat jedoch schon erste Erkenntnisse gebracht. Bestimmte fehlerhafte Methylierungen können beispielsweise Gene, die aktiv sein sollten, in der Zelle ausschalten oder umgekehrt. Defekte der Methylierung werden deshalb mit etlichen Krankheiten in Verbindung gebracht: Diabetes, Krebs und sogar neurologische Erkrankungen.
Solchen epigenetischen Fragen weiter nachzugehen und dabei das Geheimnis der Methylierung und auch des scheinbaren DNA-Mülls viel genauer unter die Lupe zu nehmen, das hält jedenfalls Thomas Carell, Lehrstuhl Organische Chemie – Nukleinsäuren an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, für äußerst wichtig. Getragen wird seine Überzeugung von einem großen Traum, der Molekulargenetik und Neuropathologie zusammenbringt. „Wir wissen, Lernprozesse in den Neuronen hängen sehr stark mit Methylierung und Demethylierung zusammen, damit auch von den diesen Prozess steuernden Nukleinsäuren. Wie und warum, ist noch unklar. Aber mein Gefühl sagt mir, dass für Krankheitsbilder wie Depression mit Nukleinsäuren eine ganz neue Behandlungsmethode entstehen könnte. Daran möchte ich in Zukunft verstärkt arbeiten.“
Ansprechpartner:
Dr. Susanne Päch
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