TV-Doku: Ameisen-Staaten
Ameisen leben seit hundert Millionen Jahren auf der Erde, gehören damit zu den evolutionären Erfolgsmodellen und haben seither rund 15.000 unterschiedliche Arten entwickelt, die eines verbindet: Sie alle leben in Kollektiven mit Arbeitsteilung, die sich ohne jegliche Hierarchien selbst regulieren. Die gesellschaftlichen Strukturen und die Größe der Kolonien unterschieden sich dabei erheblich. Susanne Päch führt den Zuschauer in der HYPERRAUM.TV-Doku „Arbeiterinnen-Staat – Ameisen-Gesellschaften als evolutionäres Erfolgsmodell“ gemeinsam mit der Ameisenforscherin Susanne Foitzik in die faszinierende Welt der Königinnen, Arbeiterinnen und Sklavenhalterinnen.
Wie ihre nächsten Verwandten, die Bienen und Wespen, gehören die Ameisen zu den sogenannten Hautflüglern. Sie bevölkern heute weite Teile der Erde. Ganz gleich, ob Staaten nur klein sind – mit rund dreißig Bürgern, die eine hohle Eichel bevölkern – oder aber groß wie die Kolonien der Blattschneider-Ameisen, die aus Millionen von Mitgliedern bestehen: Alle Zugehörige des Ameisen-Staats haben oft den gleichen Vater, der eine oder sehr wenige Königinnen eines Kollektivs begattet. Die daraus hervorgehenden Männchen tragen übrigens zu hundert Prozent das Genom der Königin, während die die Kolonie am Leben erhaltenden Weibchen Gene von Vater und Mutter erhalten. Faktisch erwächst die Bevölkerung selbst der größten Ameisenstaaten aus dem Eierstock einer oder weniger Königinnen sowie dem Erbgut oft nur eines einzigen Männchens. Der Evolutionsbiologe bezeichnet das Phänomen als „Verwandten-Selektion“.
Ameisenstaaten sind keine Klon-Gesellschaften, aber doch eine Sippe genetisch ähnlicher Wesen. Bemerkenswert ist: Daraus entwickelt sich ein komplexes, sich selbst organisierendes Gemeinschaftswesen. Die Arbeitsteilung der Ameisen ist dabei altersabhängig. Ameisen kennen keine genetisch bedingte Spezialisierung, entwickeln aber im Lauf ihres Lebens spezifische Fähigkeiten. Das Ameisen-Hirn ist mit rund einer Millionen Neuronen um Dimensionen kleiner als das der Menschen. Doch wie beim Menschen werden die Vorgänge biochemisch über den Input aus dem Nervensystem gesteuert. So lernen Ameisen spezifisches Verhalten, das sich abhängig von den Erfahrungen auch individuell unterscheiden kann. Es gibt auch kein „Königinnen-Gen“. Königin wird, wer am Anfang seines Lebens besonders gut genährt wurde. Diese im Zentrum der Kolonie bestens behütete „Brutmaschine“ hat ein langes Leben, das bei einigen Arten sogar über fünfzig Jahre dauern kann. Ihre Aufgabe besteht ausschließlich in der Fortpflanzung, wie bei den Männchen auch. Für die reibungslose Organisation der Aufgaben in einer Kolonie oder für erforderliche Problemlösungen ist sie jedoch bedeutungslos.
Damit ein solches sich selbst regelndes Kollektiv von Lebewesen funktionieren kann, braucht es umfangreiche Kommunikation. Dafür haben Ameisen ein komplexes System entwickelt, mit dem sie interagieren und ihr Verhalten über die gesamte Kolonie koordinieren können. Während der Mensch mit seiner Sprache auditiv kommuniziert, geht das bei der Ameise hauptsächlich chemisch. Ameisen tauschen Nachrichten mit Hilfe von Gerüchen aus, die sie mit bis zu siebzig verschiedenen Drüsen auf der Haut produzieren und mit rund fünfhundert Rezeptoren in ihren Fühlern wahrnehmen. Die Nase des Menschen hat ebenfalls rund fünfhundert Geruchsrezeptoren. Auch der Mensch kann damit eine Vielzahl von Gerüchen wahrnehmen, allerdings dringt nur der kleinste Teil dieser Informationen bis ins Bewusstsein vor. Dagegen ist das menschliche exokrine Drüsensystem im Vergleich zur Ameise völlig verkümmert. Der Mensch hat im Wesentlichen einen typischen Eigengeruch, den er mit Düften zu optimieren sucht.
Doch die Nachrichten, die Ameisen mit Düften übertragen können, betreffen nicht nur den Zustand oder die Funktion des Individuums in der Gemeinschaft. Sie reichen von der Mitteilung über neue Futterstellen bis zur Gefahrenmeldung. Botenstoffe, die alarmieren, verbreiten sich rasch, um möglichst große Teile der Kolonie in kurzer Zeit erreichen zu können. Demgegenüber wirken andere lokal, wie die Sekrete für den Straßenbau. Immer gilt jedoch: Typische Geruchsmuster werden durch das Verhalten der Ameisen reguliert.
Die Arbeitsteilung bei Ameisen entspricht nicht der in der menschlichen Gesellschaft. Ameisen übernehmen – mit Ausnahme der Königin – im Lauf ihres Lebenszyklus ganz unterschiedliche Tätigkeiten. Faktisch beginnt jede junge Ameise damit, die Brut und die Königin im Herzen des Nestes zu versorgen. Hat sie hier einige Zeit gearbeitet, ändert sich ihr Tätigkeitsprofil: Sie wird zunehmend in den Außendienst geschickt. Dort ist die Arbeit schwer – und das Leben viel gefährlicher, daher ist die Sterblichkeit draußen extrem hoch.
Die unterschiedlichen Umwelterfahrungen führen zu individuellen Unterschieden. Dennoch steht das soziale Prinzip über allem. Die Ameisenforscherin kenn nur einen einzigen Fall, bei dem sich Ameisen dem Kollektiv zu entziehen versuchen: Wenn Arbeiterinnen beginnen, selbst Eier legen zu wollen, was typischerweise ausschließlich der Königin vorbehalten bleibt. Dafür hat der Ameisenstaat ein kollektives Beobachtungs- und Bestrafungssystem entwickelt, denn diese Wesen verraten sich durch ihrem speziellen Geruch. Ameisen überwachen sich daraufhin gegenseitig. Wird eine Sünderin entlarvt, wird sie mit Hieben bestraft, im schlimmsten Fall kann sie sogar getötet werden.
Durch die enge Kooperation von genetisch nah verwandten Tieren sind Ameisen ein evolutionäres Erfolgsmodell geworden. Ameisenstaaten gab es schon zu Zeiten der Dinosaurier, die vor siebzig Millionen Jahren ausgestorben sind – und es ist anzunehmen, dass sie sich auch die nächsten Millionen Jahre über die Erde weiter ausbreiten, ganz im Unterschied zu etlichen sonstigen Arten, deren Lebensfähigkeit ein anderes evolutionäres Erfolgsmodell immer stärker bedroht. Es zerstört mit seiner Lebensweise die Lebensräume vieler anderer Arten und bedroht sie zudem mit der von ihm entwickelten soziokulturellen Evolution.
Die Perfektion der Ameisenstaaten wirft gleichzeitig ein Schlaglicht auf die Problematik der menschlichen Gesellschaft: Auch der Mensch als soziales Wesen ist bis heute evolutionär darauf programmiert, sich vor allem selbst zu erhalten. Er müsste seine Gemeinschaft dahin entwickeln, diese genetisch festgelegte Schwelle mit seinen durch die Evolution neu gewonnenen intellektuellen Fähigkeiten zu überwinden und alle Wesen dieser Erde als irdisches Kollektiv zu verstehen. Noch ist der Mensch dabei allerdings nicht allzu weit gekommen.
Ansprechpartner:
Dr. Susanne Päch
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