TV-Doku: Forschungsbetrieb in der Sackgasse?
Wenn einer der arriviertesten Kosmologen in Deutschland den Wissenschaftsbetrieb kritisiert, dann hat das Gewicht. Die Art und Weise, wie heute Forschung betrieben wird, setzt Matthias Bartelmanns Meinung nach ganz falsche Anreize und behindert große Entdeckungen in der Grundlagenforschung. Jungen Wissenschaftlern würde nicht genügend Zeit gegeben, über alternative Ansätze in Ruhe nachdenken zu können, da sie unter permanentem Publikationsdruck stehen. Zudem würden Forscher ausschließlich durch die Zahl dieser Publikationen bewertet, nicht aber die fachliche Qualität von Arbeiten geprüft.
Das Ergebnis: Immer mehr Publikationen, die keiner mehr liest. Auch die Beschaffung von Drittmitteln sei nicht so sehr an der Bedeutung einer wissenschaftlichen Fragestellung orientiert, sondern daran, wie schnell ein zahlenmäßig großer Output an Veröffentlichungen zu erwarten ist. Die Defizite des Wissenschaftssystems sind offensichtlich, wie Bartelmann im Gespräch mit HYPERRAUM.TV zugibt.
Bartelmann ist Astrophysiker und gehört zu den arriviertesten Kosmologen Deutschlands. Der frühere Heisenberg-Stipendiat hat zwei Jahre in Harvard geforscht und war einige Jahre Dekan der Fakultät für Physik und Astronomie an der Universität Heidelberg. Interessanterweise hat er diesen organisatorischen Management-Posten aufgegeben, um sich ganz neuen Forschungsfragen zu stellen. Im Exzellenzcluster Strukturen sucht er nach grundlegenden universalen Strukturbildungs-Gesetzen, die auf allen Skalen Gültigkeit haben: vom Anbeginn des Universums bis zur Entstehung von Leben.
Natürlich geht es auch in der Wissenschaft letztlich ums Geld. Wie kommt man am einfachsten an die nächsten Töpfe? Eine wichtige, vielleicht die wichtigste Frage im Leben jedes Wissenschaftlers. Und der Mut zum Wagnis muss sich diesem Ziel eben unterordnen, wenn es um den nächsten Projektantrag geht. Die Ursache dieses Missstandes sieht Bartelmann aber viel tiefer liegend: in einem weiteren Phänomen, das weit über den Wissenschaftsbetrieb hinausreicht und das soziale Miteinander der Menschen in der modernen Gesellschaft neben dem allgemeinen Vertrauensverlust charakterisiert. Bartelmann bezeichnet es als die „Verantwortungs-Vermeidungs-Gesellschaft“. Sie findet sich beispielsweise in der Wirtschaft, in der Mitarbeiter lieber den Chef entscheiden lassen und der Chef sich hinter der Unternehmensberatung versteckt, die meist verschwindet, sobald sie ihre Ratschläge abgegeben und verrechnet hat. Aber sie zeigt sich ebenso in der Politik, mit Entscheidungen, die inzwischen viel mehr von Meinungsumfragen als vom eigenen, politisch verantworteten Gestaltungswillen abhängen.
Zurück zum Wissenschaftsbetrieb: Kritik am Sachstand ist das eine, das andere natürlich die Frage nach den Chancen, die Lage zu verbessern. Hier wartet Bartelmann mit drei zentralen Punkten auf, die aber, so sagt Bartelmann, alle darauf hinauslaufen würden, die Kriterien zu verändern, nach denen junge Wissenschaftler beurteilt werden: Erstens, wissenschaftliche Leistung nicht mehr, wie bisher, durch Zählen von Papers zu bewerten, sondern sie zu lesen. Zweitens, junge Forscher sollten Zeit zum Forschen in Ruhe und ohne Vorgaben erhalten, um auf wirklich neue Ideen kommen zu können – und drittens, so Bartelmann, sollten die Etablierten sehr viel mehr Wert auf die primären Aspekte legen, auch bei der Auswahl ihrer Wissenschaftler.
Viele interessante Ideen, aber auch ebenso viel Konjunktiv, hört man Bartelmann zu, wie sich da was ändern ließe. Problem erkannt, doch die Umsetzung bleibt mehr als schwierig. So setzt Bartelmann zuerst einmal auf die Eigen-Verantwortlichkeit gerade der etablierten Wissenschaftler. Sie müssten auf die Missstände hinweisen – und den Missständen dann auch bei Ausbildung und Auswahl des wissenschaftlichen Nachwuches so gut es eben geht entgegenwirken. Wenn solchem Denken ein nennenswerter Teil der Forscher folgen würde, wäre schon einiges gewonnen. Vielleicht ist in all dem, was Bartelmann da kritisiert, auch ein Grund dafür zu finden, dass große revolutionäre Ideen in der Grundlagenphysik seit etlichen Jahrzehnten irgendwie nicht mehr richtig stattfinden.
Die theoretische Physik befasst sich mit den schwierigsten Fragen, die die Wissenschaft heute stellen und denen nur mit Hilfe komplexer Maschinen und der größten Computer nachgegangen werden kann: Fragen der Kosmologie und der universalen Strukturgesetze von Raum und Zeit, aber auch Fragen zur Welt von Quarks und Leptonen, alles am Rande dessen liegend, was selbst für den geschulten und befähigten Physiker kaum noch nachvollziehbar zu leisten ist. Neue Erkenntnisse gehen so tief, dass die Zahl derer, die in der Lage ist, die Ergebnisse von Kollegen tatsächlich zu verstehen und dann zu interpretieren, immer kleiner wird. Die theoretische Wissenschaft an den Grenzen unseres Vorstellungsvermögens: immer mehr Daten, immer mehr „Wissen“ und dabei immer weniger Verständnisgewinn?
Doch Bartelmann weist darauf hin, dass uns die physikalische Grundlagenforschung letztlich niemals endgültiges Wissen oder gar tiefgreifendes Verständnis liefern könnte, sondern bestenfalls ein abstraktes Abbild dessen, was um uns ist.
Ansprechpartner:
Dr. Susanne Päch
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