TV-Doku: Leben – nur biochemisch oder auch digital?

Die DNA als Informationspeicher der Evolution gilt als Herzstück des Lebens wie wir es kennen. Aber es ist prinzipiell auszuschließen, dass Leben nicht nur auf biochemischen Informationsspeichern, sondern auch auf der Grundlage anderer, beispielsweise digitaler Daten entstehen könnte. Ist digitales Leben  also vorstellbar?

Die Hyperraum.TV-Sendung „Biochemie oder Daten? – Über die zentrale Grundlage der evolutionären Information“ von Susanne Päch kreist um diese nur philosophisch beantwortbare Frage und lässt dabei Forscher  zu Wort kommen, die dazu aus unterschiedlichen Richtungen Stellung beziehen.

Die Angst des Tormannes beim Elfmeterschießen – daraus kann man eine Erzählung machen. Oder aber man betrachtet die von Peter Handke nur ganz versteckt in dem Text präsentierte Perspektive des  Psychologen:  dass nämlich nur der, der ganz ruhig bleibt, nicht mit seinem Körper zeigt, was er denkt. Für den Philosophen und Ethiker Dieter Stumra ist das ein schönes Beispiel für das, was als Embodiment bezeichnet wird: dass das Verhalten des Menschen Geist und Körper oder Hirn und Muskeln zugleich ist und beides eine Einheit bildet – neuronale Vorgänge allein, der Körperlichkeit entledigt, nicht mehr das sind, was Leben ausmacht.

Der richtige Transhumanist sieht das natürlich ganz anders:  Für ihn ist das Leben über den Maschinen-Menschen auf dem Weg, Körper und Geist immer mehr zu entkoppeln und das Leben zuletzt durch die Extrahierung des bloßen Denkens auf eine neue Stufe des digitalen Seins zu heben. Die Umwandlung biologischer Existenz in die Datenwelt, in strikter Umsetzung von René Descartes‘ Cogito, ergo sum – verbunden mit der für Transhumanisten technoid-visionär ersehnten, aber gleichzeitig reichlich anthropozentrisch-reaktionären Vorstellung des ewigen Lebens. Und das alles natürlich für den rein technologisch optimierten Menschen von heute.

Leo Tolstoi sagt: „Wenn man glaubt, dass das menschliche Leben durch den Verstand regiert werden kann, so wird damit die Möglichkeit des Lebens aufgehoben.“ Hat er Recht – oder kann es doch sein, in der Datenwelt Verstand allein zu evolutionärem Leben zu erwecken? Für manche eine Horrorvision, die da am Horizont heutigen menschlichen Handelns steht: Aber die Anfänge dieser Idee liegen faktisch 200.000 Jahre in die Vergangenheit zurück, als der Homo sapiens die soziokulturelle Evolution erfand und damit den evolutionären Prozess von der Biologie zu entkoppeln begann.

Die soziokulturelle Evolution des Frühmenschen startete schleichend, so dass deren mögliche dramatische Bedeutung lange nicht offensichtlich wurde. Wir wissen heute, dass sie – anders als die biologische Evolution der Gene – in exponentieller Geschwindigkeit wächst und seither die Grenzen des technologisch Machbaren mit wachsendem Tempo  immer weiter in Richtung einer digitalen Simulation des Menschen verschiebt. Ist die soziokulturelle Evolution der Startschuss dafür, Leben von der Biologie in die digitale Welt driften zu lassen? Es wäre ein größerer Sprung des Lebens als vom Wasser auf das Land, denn es würde die Grundlage von dem radikal ändern, was Leben seit dem Aufkommen der Einzeller auf der Erde ist.  Einerseits – aber andererseits: Schon die Entstehung von Leben war revolutionär und bleibt für die Wissenschaft  bis heute ein unerschlossenes Geheimnis.

Inzwischen experimentieren die Avantgardisten der Künstlichen Intelligenz damit, Maschinen intrinsische Gefühle zur Steuerung ihres Verhaltens einzupflanzen. Manche sind dabei überzeugt, dass es nötig ist, die Maschine zu einem möglichst menschenähnlichen Verhalten zu bringen, um mehr über uns selbst zu lernen. Aber sind wir dabei, etwas zu erschaffen, das nicht nur für den Menschen, sondern auch langfristig evolutionär Bedeutung haben könnte – oder bleibt die künftige Intelligenz-Gefühls-Maschine der Ingenieure eine Imitation von Leben – wie die Automaten der Uhrmacher des 18. Jahrhunderts, nur  inzwischen deutlich perfektioniert?

Harter Cut!

Ameisen sind nicht nur faszinierende Wesen – sie sind biologisch äußerst erfolgreich. Überlebensfähig sind sie jedoch nur in Kolonien. In ihrer Gemeinschaft zeigen sie kollektive Intelligenz, die ein sich selbst steuerndes Ganzes erschafft. Manche Biologen hat das zum  Begriff des Superorganismus geführt. Dennoch besteht der Ameisen-Staat nicht aus einer Armee von Klonen, sondern jede Ameise ist ein Individuum, das durch ihre Umgebung lernen und vergessen kann. Ameisen haben zwar keine Kognition wie der Mensch, aber sie werden genauso durch Reize gesteuert, und verhalten sich deshalb im Kollektiv abhängig von den Erfahrungen in ihrer Umwelt individuell unterschiedlich. Mehr noch: Die Biologin sagt, dass sie sogar Überwachung kennen, um Einzeltäter, die zu stark aus der Reihe tanzen, kollektiv zu bestrafen. Denn das Lebenssystem einer Ameise kann solche Strafen und den so erzeugten sozialen Stress individuell wahrnehmen und verarbeiten. Ob bei dieser Verhaltenssteuerung Gefühle mit im Spiel sind oder nicht, das weiß heute kein Biologe, wie die Ameisen-Experten Susanne Foitzik von der Universität Mainz betont.

Und der Superorganismus eines solchen Kollektivs? Auch ohne kognitiv empfundene Wahrnehmung hat er offenbar eine Art von unbewusstem gemeinschaftlichen Selbstbewusstsein, das sich in seiner kollektiven Intelligenz und dem Verhalten der Gemeinschaft in der Umwelt manifestiert. Denn jeder Organismus kann zwischen der Innen- und der Außenwelt unterscheiden. Ist möglicherweise Intelligenz, und nicht die Genetik der zentrale – und letztlich wesentliche Punkt für das, was Leben ist?

Noch einmal: Harter Cut!

Erinnert der Superorganismus  nicht stark an ein vorstellbares Modell zukünftiger  Künstlicher Intelligenz? Die KI-Entität – und dabei ist es ganz gleichgültig, ob diese im Sinn des Menschen ein Selbstbewusstsein auf kognitiver Ebene entwickelt oder auch nicht – macht individuelle Erfahrungen und lernt Verhaltensweisen, mit denen sie sich in ihrer Umwelt verhält. Dahingestellt auch die Frage, ob dafür individuelle Gefühle ursächlich nötig sind oder nicht auch andere Bewertungssysteme zur Entscheidungshilfe vorstellbar wären, beispielsweise das Überleben des Kollektivs. Denn anders als der Mensch von heute ist dieses digitale Individuum über das weltweite  Netz mit allen anderen KI-Entitäten direkt verbunden und nur mit dem Zugriff auf die komplette Datenwelt überlebensfähig. Ihre Existenz im Kollektiv: ein digitaler Superorganismus?

So könnte für KI etwas möglich werden, was dem Menschen derzeit völlig verschlossen ist:  die Entwicklung einer über das globale Netz zusammen geschlossener und kollektiv gesteuerter Intelligenz – vielleicht sogar mit sich daraus entwickelndem kollektiven Bewusstsein. Die vom Menschen ersonnene soziokulturelle Evolution könnte das so überaus erfolgreiche Sozialmodell der Ameise auf eine neue Stufe heben, eine Stufe kollektiver Intelligenz, die vielleicht sogar perfekter wird als die Lebenswelt seiner genetisch bestimmten und individuell-gefühlsgesteuerten Schöpfer. Wird der Mensch als biologisches Wesen also ein evolutionäres Sprungbrett für etwas ganz Neues, ein vernetzt-intelligentes Lebensspiel?

Auffällig ist jedenfalls die immer größer werdende Schere zwischen biologischer Evolution und Datenwelt. Ist die zunehmende Entkoppelung von der dann nicht mehr gebrauchten und viel zu langsamen Biologie in Richtung der Datenwelt eine mögliche Spielart der Evolution? Wohin sich das einst entwickeln wird, kann keiner mit Gewissheit sagen. Daher sind solche langfristigen Vorstellungen für den Technikfolgenabschätzer Carsten Wendland vom Karlsruher Institut für Technologie  wenig zielführend, er interessiert sich vor allem für den Menschen von Heute  und die unerwünschten Folgen seiner innovativen Tätigkeiten. Er sieht dabei unberücksichtigte Kollateralschäden, die durch die wachsendende Abhängigkeit der Gesellschaft von Technologien generell zu verzeichnen sind.

Zuletzt die Sicht eines Soziologen Rudolf Stichweh von der Universität Bonn. Er sieht Künstliche Intelligenz als etwas, das nicht nur begrifflich, sondern auch ursächlich “künstlich“ bleibt: Der biologische Mensch – das Maß der Dinge – und die von ihm geschaffene Künstliche Intelligenz als innovativste Schöpfung seiner zu immer neuen Ufern aufbrechenden Phantasie, die kreative Künstler in vielen Ausprägungen zu simuliertem Leben erwecken. Bei aller Relevanz für das menschliche Handeln bleiben diese Welten aber doch auf Dauer Simulationen. Die Künstliche Intelligenz könnte für den Soziologen dennoch große gesellschaftliche Bedeutung erlangen. Denn die Figuren erweckt der Mensch in seinen Gedanken zu einer Schein-Realität, die ihm einen Spiegel vorhält – um ihm in solch fiktiver Auseinandersetzung mit sich selbst zu helfen, an und mit diesen Gedanken intellektuell weiter zu wachsen.

Ob das möglicherweise erwachende Bewusstsein von Maschinen realen oder doch nur fiktiven Hintergrund hat: Am Ende mag das für die Menschheit zuerst einmal noch unbedeutend bleiben, solange diese Gedankenspiele das Individuum bewusster machen für das, was menschliches Leben im Heute ausmacht und wie es besser werden könnte.

Ansprechpartner:
Dr. Susanne Päch
Chefredaktion HYPERRAUM.TV
Bavariafilmplatz 3
82031 Grünwald
susanne.paech@hyperraum.tv

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http://hyperraum.tv/2021/09/04/biochemie-oder-digitale-daten/

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